Ein Thema, drei Vektoren

■ Der Kassandra-Komplex, eine Gemeinschaftsproduktion dreier Hamburger Gruppen, bei den Tanztheaterwochen auf Kampnagel

, eine Gemeinschaftsproduktion dreier

Hamburger Gruppen, bei den Tanztheaterwochen auf Kampnagel

Immer wieder identifizieren sich Künstler mit Kassandra, die meinen, auf zeitgenössische Bedrohung hinweisen zu müssen. Daß die komplexe Widersprüchlichkeit der Figur sie nicht unbedingt zum Banner prädestiniert, hat bis heute die wenigsten abgeschreckt. Selbsternannte Apokalyptiker versalzen dieses Thema dabei meist genauso wie schicksalsgeile Melancholiker oder „Wir-Frauen“, die Kassandra nur als Männeropfer rezipieren.

Was liegt also näher, als das Motiv aufzusplitten und von drei völlig unterschiedlichen Sichtweisen zu betrachten, wie es die Hamburger Theatergruppen COAX, Norddeutsches Tanztheater und Lubricat jetzt für ihre Gemeinschaftsproduktion Kassandra Komplex unternommen haben. Daß sie dabei, bis auf eine gemeinsame Diskussionsphase, getrennt entwickelt und gedacht haben, erweist sich allerdings nur als oberflächlicher Gewinn. Zwar bietet der knapp zweieinhalbstündige Abend drei völlig unterschiedliche Ausführungen – doch leider arbeiten die Gedankenkräfte zentrifugal und führen als Ganzes eher zu einem unbefriedigenden Ergebnis.

Auch die Qualität der Teile ist extrem unterschiedlich. Dabei beginnt es durchaus hoffnungsvoll. Die halbstündige Choreografie weiblich/männlich von COAX zeigt deutlich, daß die Gruppe ihr Thema der sexuellen Beziehungen und Stereotypen immer besser beherrscht und gedankenschnell in Bewegungen verwandeln kann. Auch der Abschied vom Maschinenbauer Nic Baginsky und die neue Zusammenarbeit mit dem Discjokkey Pee Dee führt zu viel schlüssigeren Formen. Die Gruppe hat sich eingespielt und Rica Bluncks Choreografien verlieren endlich ihre Posenhaftigkeit und werden zu einer sinnlichen Rede. Lediglich der Bezug zur „Frauengestalt Kassandra“ wirkt ein wenig bemüht.

Der Beitrag der Projektinitiatorinnen Rotraud de Neve und Heidrun Vielhauer GesternHeuteMorgen ist dagegen an Belanglosigkeit nicht zu überbieten. Zu hübschen Monumentalprojektionen aus „wichtigen“ Sätzen und Wörtern von Sebastiano Toma zappelt Vielhauer in peinlicher Extase und erzählt de Neve billige Großbürgersatiren. Kein Faden, keine Spannung, kein Reiz lassen für die angekündigte „abendfüllende“ Version das Schlimmste befürchten.

Die Kassandra-Maschine der Gruppe Lubricat bot dagegen wenigstens Reibung. Armin Dallapiccola, nackt an einem Sportring hängend, sprach die Nacherzählung einer Anal-Orgie, Elettra de Salvo als Stewardeß hielt „safety-first“- Monologe aus dem technisch- menschlichen Zwischenreich, der Countertenor Jochen Sievers sang nette Liedchen und Paul Rückwald tanzte zum Walkman in beeindrukkender Eleganz etwas wie Techno. Auch wenn ein knappes Drittel der Zuschauer ob dieses Bombardements den Saal verließ, blieb das Konstrukt doch eher müde, weil zu absichtlich provokant. Auch hier blieb die Form des Themas zu selbstbezogen, um diesen gemeinsamen Theaterabend inhaltlich zu rechtfertigen. Till Briegleb