„Es muß nicht alles gerade sein“

Die Hafenstraße baut: Zusammen mit den Bürgern St. Paulis stellen die Hausbesetzer ein Konzept zur Neubebauung der Häuserlücken vor – und gegen genormte Sozialwohnungen.  ■ Aus Hamburg Michaela Schießl

Harry's Kuriositäten aus aller Welt müssen enger zusammenrücken. Vom Haifischgebiß baumeln Muschelketten und der ausgestopfte Vogel hockt desorientiert auf dem Orientteppich. Grund für die plötzliche Enge ist die nackte Liebe: Die Hälfte des berühmten Trödelkellers in der Hamburger Bernhard-Nocht-Straße, gleich hinter der Hafenstraße, mußte dem „Museum der erotischen Kunst“ weichen. Mit dieser Ausstellungsstätte für Kopulationskunst will der berüchtigte Immobilienhändler Claus Becker sein Image aufpolieren: Vom Häusersammler zum Kunstsammler. Doch auf St. Pauli weiß jeder, wonach Becker der Sinn steht: Den Kiez kommerziell ausschlachten. Beckers Methode nämlich ist gefürchtet: Er saniert abrißreife Mietshäuser und wandelt sie in Eigentumswohnungen um. Nichts für finanzschwache Menschen. Nichts für die St. Paulianer. Und schon gar nichts für die Leute von der Hafenstraße.

Noch liegt der ehemalige Bauwagenplatz friedlich und nichtsahnend, grün bewachsen am Hang, und ahnt nicht, was auf ihn zukommt. Denn Becker hat ein Auge auf ihn geworfen. Ihn verlangt nach einem Wohnhaus für Besserverdienende. Aber auch der Eigentümer, die stadteigene Hafenrand GmbH, will bauen. Seit Jahren versucht der Geschäftsführer Dierksen, die Kündigung der Hafenstraßenmieter und den Abriß der Häuser durchzusetzen. Nun will er seinen widerborstigen Mietern einen schönen Sozialbau an die Seite stellen, hübsch genormt mit 71 identischen Wohneinheiten. „Das ist die gleiche Masche wie im Schanzenviertel. Dort wurde den Rettern der Roten Flora der Park weggenommen und Sozialwohnungen hingestellt. Was will man dagegen schon sagen?“ Anne Reiche wohnt seit neun Jahren in der Hafenstraße 116, mit 13 anderen in einem Haus. Und wie alle anderen ist sie es endgültig leid, immer gegen Kündigung, Abriß, und sonstige Bedrohungen anzurennen. „Wir wohnen nun schon so lange hier, wir sind eine Realität. Fünfzehn Kinder haben wir gemacht. Wir gehen hier nicht mehr weg.“

Als Dierksen vergangenen Herbst Probebohrungen auf dem ehemaligen Bauwagenplatz durchführen ließ, wußten die Hafensträßler, daß etwas passieren mußte. Doch anstatt den Platz zu besetzen und die Bauarbeiten zu stören, trafen sie sich im hauseigenen Cafe „bei Hermine“ und heckten einen Plan aus. Streng wurde er gehütet, damit nichts vorab an die Öffentlichkeit dringt. Am Mittwoch schließlich bat die Hamburger Hafenstraße zur lange geplanten Pressekonferenz. Aus pädagogischen Gründen in der benachbarten Schule Friedrichstraße statt in den Häusern selbst, wegen möglicher Berührungsängste.

Seit elf Uhr morgens waren die aufgeregten Initiatoren zugange, die Wände des Musiksaals mit Zeichnungen, Fotos aus St. Pauli und Kopien vom erhebenden Schriftverkehr mit den Behörden zu verzieren. Kaffee und Zwiebelkuchen waren drapiert, das Podium aufgebaut, die Gästestühle warteten in Reih und Glied, als die ersten Medienvertreter sich vorsichtig näherten. Wenig später war der Musiksaal proppenvoll, die Stimmung aufgeräumt, und die Luft stickig. Die Hafenstraßenvertreter rauchten wie die Teufel und nestelten nervös in ihren Unterlagen. „Hoffentlich bringen wir überhaupt ein Wort raus vor Lampenfieber“, sagt Volker. Sie bringen. „Hallo, ich bin Moni von der Baugruppe Hafenstraße. Ich möchte Sie herzlich begrüßen.“

Moni's Stimme zittert ein wenig, doch ihre Nachbarinnen stehen ihr bei: „Bleib ganz ruhig. Kein Grund zur Aufregung.“ Moni wird ruhiger. Fünf sitzen neben ihr, fünf dahinter. „Sie denken bestimmt, jetzt sind wir völlig durchgedreht. Denn wir, die Hafenstraße, wollen bauen. Wir haben bereits konkrete Pläne, und wollen zur Finanzierung und als Bau-Träger eine Genossenschaft gründen.“ Keiner bewegt sich im Auditorium. Keiner lacht. Keiner fragt, was denn aus der drohenden Kündigung im Frühjahr wird, aus dem angekündigten Abriß der Häuser. Die Hafenstraße will bauen. Offenbar ganz normal.

„Wir möchten unsere Energien positiv einsetzen, anstatt immer nur gegen das Damoklesschwert der Räumungen zu agieren“, sagt Moni. Und spricht von Erfahrungen, Menschen, dem Stadtteil, dem Leben, und den ständigen Bedrohungen seitens der Stadt. Töne, die nicht neu sind aus der Hafenstraße, aber bislang ungehört blieben. Die ehemaligen Hauserkämpfer sind älter geworden. Die einstige Kampfburg ist heute Heimat, die Bürger von St. Pauli sind ihre Nachbarn, die nachmittags zum Kaffee zu Hermine kommen und die neuen Babys anschauen.

Die Heilsarmee bringt regelmäßig Essen für die Volxküche und betet ein bißchen auf der Treppe zwischen den Häusern, und die Nachbarskinder spielen am Hang. Regelmäßig kommen die Bewohner eines nahegelegenen Altersheims zu Besuch. Am Hafenrand ist Hamburg ein Dorf.

„Hafenstraße viel gut“, hieß die Parole zur Barrikadenzeit. Drei Worte, die genügten, mehr hatte man den politischen Gegnern im Senat nicht zu sagen. Und mehr hätten die auch nicht kapiert.

Heute tönt es anders aus der Hafenstraße: In der Einleitung der perfekt gestalteten, klarsichtfoliengeschützten Broschüre zum Neubauprojekt steht: „Weil wir in so exponierter Lage sind, haben wir eine Verantwortung. Viele Menschen wollen hier wohnen und arbeiten. Das ist gut so. Wir wollen das ernst nehmen: „Tor zur Welt. (...) Es soll schon von außen, auf den ersten Blick, zu sehen sein: Zusammen wohnen und arbeiten, mit Rücksicht auf den einzelnen Menschen.“ Vor allem aber solle das Bauprojekt nicht über die Köpfe der Bewohner hinweg stattfinden, sondern von denen mitgestaltet werden, nach deren Bedürfnissen. „Geradezu modellhaft“, lobt tags drauf die Springer-Zeitung „Hamburger Abendblatt“ das Vorhaben ihrer ehemaligen Hauptfeinde. Doch die Hafensträßler stört das Lob von falscher Seite nicht: „Sollen sie uns zu Modellbürgern machen, egal. Image ist im Moment unser geringstes Problem.“

In Wahrheit sind die Bewohner der Hamburger Hafenstraße ein wichtiger Bestandteil des Viertels geworden. „Eigeninitiative hat in St. Pauli Tradition“, sagt Anne Reiche. „Und das soll so bleiben.“ Eine Herangehensweise, die den Bürgern zunehmend Mut macht, sich gegen Politik von oben zu wehren. Für sie sind die engagierten Jungen aus der Hafenstraße ein Glücksfall. Und zu unterstützen: So sitzt die Baugruppe nicht allein auf dem Podium im Musiksaal: Die Schulleiterin Jutta Reinitzer leitet die Diskussion, der Elternsprecher Wolfgang Naujoks wettert gegen die Yuppisierung des Stadtteils: „Das mag ja am Anfang noch Sozialwohnung heißen.“

Pastor Arndt vom Hafenrandverein für selbstbestimmtes Wohnen und Leben lobt die „Kreativität, das Engagement, und die Leidenschaft der Hafensträßler, hier zu wohnen, und geißelt die Pfeffersackmentalität des Senats, der St. Pauli nur verwerten will, auf Kosten der Bewohner. „Wir haben unzählige Male um ein Gespräch gebeten mit dem Senat und der Stadtentwicklungssenatorin Traute Müller, aber niemals Antwort erhalten. Für die sind wir offenbar die falschen Menschen.“ Und als solche teilen sie das Schicksal der Hausbesetzer – und solidarisieren sich zu einer großen, schrecklich netten Familie.

Sozial stimmt der Rückhalt für das Projekt Bauen in der Hafenstraße. Fachlich auch. Namhafte Architekten, darunter Friedensreich Hundertwasser, haben ihre Mithilfe angeboten. Jos Weber, Professor an der Hochschule für bildenden Künste, Dieter Läpple, Professor an der Technischen Universität Hamburg-Harburg, und Jens Dangschat, Professor für Städtesoziologie an der Uni Hamburg unterstützen das Bauprojekt. Sie sitzen nicht nur auf dem Podium, sie setzen sich ein.

Am 6. Mai treffen sie sich samt ihrer Studenten, um konkrete Pläne zu besprechen. Ein Stadtforum soll gegründet werden, zur Bauplanung und Durchführung. Gezeichnet wird schon länger. Zwei Studenten der Fachochschule für Architektur haben das Projekt zum Diplomthema gemacht. „Es muß nicht alles gerade sein“, sagt Anne Reiche, und erklärt die phantasievollen Zeichnungen auf der Stellwand. Das neue Haus auf dem alten Bauwagenplatz soll als Herzstück eine komunale Stadtteilhalle erhalten. Die Volxküche wird zur Vollwert- Kantine ausgeweitet. Eine Kindertagesstätte, Ateliers, ein Architektinnenbüro und drei Etagen Wohnungen sind geplant, alles spielerisch aufeinandergesetzt mit Verbindungen zu den anderen Häusern und Dachgärten. Auch ein Waschhaus wird gebaut, mit Wannen, Duschen und einer Sauna, die allen St. Paulianern zur Verfügung stehen. Und ein öffentliches Klo, für die sauberen Touristen vom Fischmarkt, die immer in die Hauseingänge pissen. „Da besteht ganz eindeutig Bedarf nach einer Toilette“, sagt Anne Reiche. Viel vornehmer kann man in Blankenese auch nicht formulieren.