Den Ballast hinter sich lassen

Ein Beitrag zur Debatte um Erinnerungskultur und „Historisierung“  ■ Von Sonja Margolina

Der erste Text, den ich auf deutsch las, war weder von Goethe noch von Grass, sondern der Essay von Ernst Nolte: „Die Vergangenheit, die nicht vergehen will“. Daraus kann man verschiedene Schlüsse ziehen; zum Beispiel, daß ich, kaum lesen könnend, in Deutschland „keine harmlose Frühlingswiese, sondern ein schwer vermintes Gelände“ ahnungslos betrat (so Lothar Baier in seiner Rezension zu meinem Buch „Das Ende der Lügen Rußland und die Juden im Zwanzigsten Jahrhundert“). Mein damaliges Interesse für die Problematik der Vergangenheitsbewältigung in Deutschland hing aber dennoch nicht mit der Parteinahme in diesem Streit und nicht mit der Frage zusammen, ob Auschwitz unvergleichlich und einmalig ist, sondern mit der Rechtfertigung meines Aufenthaltes in diesem Land. Dessen „Boden“ habe ich zwar aus privaten Gründen betreten, aber das war für mich durchaus nicht einfach und nicht selbstverständlich. Ich gehöre einer Generation an, deren Brüder und Schwestern in Babij-Jar, im Minsker Ghetto, in namenlosen Gruben verscharrt wurden. Die Angehörigen dieser Menschen konnten sich damals nicht vorstellen, daß ein Jude freiwillig nach Deutschland zieht oder emigriert, weil es ihm da „besser geht“.

Was aber Ernst Nolte betrifft, dessen geistige Tochter zu sein mir von meinen Kritikern die Ehre zugestanden wurde, kam mir seine These über den Faschismus als Reaktion auf den Kommunismus längst bekannt vor. Der Gedanke, daß das Sowjetsystem mit Nazideutschland verglichen werden kann, war auch in den 60er Jahren nicht neu. So bemühten sich die Drehbuchautoren des bekannten Films „Der gewöhnliche Faschismus“, diese Idee an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Möglichkeit aber, den Nazismus direkt als Reaktion auf den Kommunismus zu betrachten, war sogar von den Dissidenten lange Zeit tabuisiert. Die sowjetische Machtelite war sich ihrer Verwandtschaft mit den Nazis nicht bewußt, und das Gerede über das Tausendjährige Reich ließ sie unberührt. Dies war allerdings kurzsichtig.

Ich glaube sogar, daß die Frage, wer der erste war, ahistorisch ist. Gerade aus diesem Nexus ergäbe sich, daß Deutsche für alles verantwortlich sind, Deutschland und nicht Rußland hat den Ersten Weltkrieg begonnen, Deutsche sehnten sich nach Kolonien und nach „Lebensraum“; Deutsche schickten vier Züge mit allerlei Revolutionären nach Petrograd und gaben ihnen 50 Millionen Reichsmark für die Revolution. Wenn sie gewußt hätten, daß sie dadurch Hitler an die Macht brächten, hätten sie Lenin nach Moabit geschickt. Genausowenig Sinn hatte die Behauptung, Deutschland habe den Ersten Weltkrieg begonnen, es habe dafür büßen müssen. Die Buße, wie bekannt, hat den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Heute reicht es nicht mehr, zu sagen, Deutschland hätte den Ersten Weltkrieg angefangen. Man braucht eine mehrdimensionale Optik, und in bezug auf dieses lange vergangene Ereignis scheint sie erreicht zu sein. Was schließlich am Ende kommt, ist nur Interpretation, die immer revidiert sein muß. Daher ist Revisionismus ein ganz normaler methodischer Vorgang, er weist darauf hin, daß die Gesellschaft, Wissenschaft und unser Selbstverständnis sich ständig in Bewegung befinden. Wenn es nicht so wäre, würde römische Geschichte noch heute aus den Chroniken von Livius gelernt. Ernst Nolte als einen Revisionisten zu beschimpfen ist gleichbedeutend damit, ihn für einen empfindlichen Historiker zu halten.

Der Versuch, Nazigeschichte im Rahmen der Geschichte der europäischen Moderne zu analysieren, und sie damit eine Etappe in der Kette grausamer Geschehnisse unseres Jahrhunderts darzustellen, wird mit ihrer Relativierung gleichgesetzt. Dies ist nicht ganz unrecht. Der Vergleich, wenn dabei Ähnlichkeiten zum Ausdruck kommen, beraubt die Erscheinung ihre Einmaligkeit. Die Frage der Einmaligkeit des Nazismus wurde im Historikerstreit zum großen Teil auf die Einmaligkeit des Verbrechens an den Juden reduziert. Für die Befürworter dieser These war und ist dies kein historisches Problem. Die Einmaligkeit von Auschwitz wird zum politisch-ideologischen Instrument, heutige Politik als Buße für die Vergangenheit zu gestalten und eine negative Selbstidentifizierung ins gesellschaftliche Bewußtsein einzupflanzen. Die scheinbar moralische Unantastbarkeit dieser Position ist die wichtigste Ressource jener „Öffentlichkeit“, die sich mit aggressivem Denkverbot und Zensur geistig sterilisiert, mehr noch: moralisch kompromittiert. So hat die These von Dan Diner über die Unvergleichlichkeit der „Endlösung“ dazu geführt, daß er „nationales Gedächtnis“ als die einzig und allein wahre Form des historischen Gedächtnisses anerkannt hat. Dabei wurden die Leiden der Opfer der Kollektivierung – der sowjetischen Bauern – im Vergleich zu denen der Juden als historisch unbedeutend erklärt, weil sie als soziale Schicht über kein kollektives Gedächtnis verfügen. Mit dieser ethisch problematischen Logik sucht der Autor seine These über die Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit des Verbrechens an den Juden und damit die kollektive Schuld der Deutschen als Nation zu beweisen. Wenn aber das Erinnern nicht als „historiographisches Konstrukt“, sondern als ein konkret-historisches Problem reflektiert wird, ergibt sich aus dem Vergleich beider unvergleichlicher Einmaligkeiten etwas anderes. Ukrainische, russische Bauern und Kasachen mit zwei Millionen Verhungerten (etwa die Hälfte dieser ethnischen Gruppe) waren zu jener Zeit durchaus nicht nur eine soziale Schicht, sie waren ein Volk, weil nicht die schwache städtische Kultur „die Nation“ vertrat, sondern die bäuerliche. Die Frage, warum das Verbrechen an den Juden solche institutionellen Formen angenommen hat, das an den Zigeunern, Bauern oder anderen sozialen Gruppen aber nicht, hängt mit den Nürnberger Prozessen, der Entnazifizierung, den unzähligen schriftlichen Dokumenten, der Filmpropaganda und Erziehung, und endlich, der Gründung Israels zusammen, deren Legitimation zum Teil auf der „Endlösung“ beruht. Wenn es 1940, als die Opfer noch am Leben waren, einen ähnlichen Prozeß gegen die für die Kollektivierung verantwortlichen Kommunisten gegeben hätte, wäre auch die Erinnerung an die „kollektiv-unspezifischen Menschen“ institutionalisiert worden. Nun hat die Geschichte für sie anders entschieden. 1941 wurde die gesamte „Schicht“ ein zweites Mal durch den Tod im Zweiten Weltkrieg bestraft. Zum Teil sind die Zeugen gefallen, zum Teil haben ihre Leiden während des Krieges die früheren aus dem Gedächtnis ausradiert. Dann fuhren die Züge mit den ehemaligen Gefangenen nach Sibirien. Der Sieg hat ihnen eine neue sowjetische Identität verschafft, die ihre Opfer-Identität für längere Zeit verdrängt hat. Das bedeutet nicht, daß die Bauern die Kollektivierung vergaßen. Offensichtlich ist nicht bekannt, daß die Rubrik „soziale Abstammung“ in der Sowjetunion viel gefährlicher war als die der Nationalität. Die Bauern lebten unter ständiger Angst, als Kulaken-Kinder entlarvt und unterdrückt zu werden. Darüber hinaus waren sie auch in der Zeit des chruschtschowschen Tauwetters nur wenig von der Entstalinisierung betroffen, zumal sie auch unter Chruschtschow ohne Pässe lebten und repressive Maßnahmen wirtschaftlicher Art bis in die siebziger Jahre erleiden mußten. Jetzt ist das schwache soziale Gedächtnis plötzlich erwacht (auch bei den unterdrückten Minderheiten). Nun werden Erzählungen gesammelt, die mit den Berichten über die Verfolgungen der Juden verglichen werden können. Unangenehm, aber wahr. Übrigens auch sowjetische Juden hatten ihre Gründe, ihre Babij-Jar- Identität zu leugnen. Sie bekamen dafür keine Entschädigung, sondern den Stempel des Zionisten. Jetzt hat sich ihr Gedächtnis so verbessert, daß sie auch daran zu erinnern pflegen, was es nicht gab.

Das Drama besteht darin, daß die Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte sich nur mühsamn institutionalisieren läßt. Zuviel Zeit ist vergangen, das Schweigen von drei Generationen hat dafür gesorgt, daß die meisten Menschen keine Familiengeschichte mehr haben. Auch schlechte Lebensbedingungen und alltägliche Sorgen wirken der Geschichte gegenüber eher apathisch. Dennoch wurde aus einer sibirischen Stadt gemeldet: nach der Öffnung der KGB- Archive haben einige Nachkommen von den entkulakisierten Bauern Überfälle auf die Familien der Täter verübt oder sie zu erpressen versucht. Die Archive wurden wieder geschlossen. Die Bedingungen für die Vergangenheitsbewältigung im Westen und im Osten sind recht verschieden.

Dennoch bleibt die Frage, was Historisierung ist, offen.

Die Befürworter der These von der Einmaligkeit der Judenvernichtung mögen nicht, daß „Auschwitz“ als Metapher für alle möglichen Massenverbrechen gebraucht wird. Dies sei allein schon eine unvermeidliche Relativierung. Dennoch sind jeden Tag im Fernsehen neue Greueltaten zu sehen, die diese Relativierung aufdrängen. Und nicht irgendwo im fernen Asien, sondern in Europa. Keiner kann jetzt sagen, er hat es nicht gewußt.

Als ich nach Westberlin kam, hat mich die Art, mit der in Deutschland mit der eigenen Geschichte umgegangen wird, verwundert. Die im Historikerstreit verhärteten Positionen sind Ausdruck einer gesellschaftlichen Kräfteverteilung. Der Historikerstreit erscheint als ein ideologischer Kampf, in dem nicht die Visionen der zukünftigen Entwicklung (die völlig fehlen) zum Gegenstand des Diskurses werden, sondern eben die Historie. Insofern stehen sämtliche politische Gruppen viel näher zueinander, als sie selbst ahnen. So etwa ist Ernst Nolte sich mit seinem Widersacher Dan Diener in einem Punkt völlig einig, nämlich darin, daß die Vergangenheit nicht vergehen darf. Dabei ist Nolte wesentlich radikaler in seiner Intention, den Ballast der Geschichte hinter sich zu lassen und endlich zu einer normalen politischen Praktik überzugehen. Der Wunsch, die Geschichte in der Gegenwart immer spürbarer und präsenter zu machen, ist nur um den Preis der Lähmung neuer Kräfte möglich; das heißt eben Konservatismus. Daß er gleichzeitig Linkskonservatismus sein kann, ändert nichts an seinem Wesen.

Hierbei geht es um die von den deutschen Kultursoziologen und Philosophen mehrfach beschriebene politische Traditionslosigkeit, die aufgrund einer Unterentwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entstanden und gleichzeitig deren Folge ist. Die „Suche nach einer historischen Rechtfertigung des Lebens“ (Helmuth Plessner) hat schon einmal ihre verhängnisvolle Rolle gespielt. Die Wiedervereinigung und der Krieg in Jugoslawien haben sichtbar gemacht, was in der stabilen Machtverteilung der Bundesrepublik im Hintergrund blieb: die bürgerlich-politische Tradition im neuen Deutschland ist nur oberflächlich. Zwischen der Unvergänglichkeit der Vergangenheit und dem Mangel an zivilen Kräften besteht ein Zusammenhang. Die Aufarbeitung der Geschichte erscheint als Ersatz für ein souveränes gesellschaftlich-politisches Handeln. Die Vergangenheitsbewältigung ist ein unabdingbarer Bestandteil des gesellschaftlichen Bewußtwerdens. Wenn sie aber die Politik ersetzt und selbst zur Politik wird, tritt sie an Stelle der Gegenwart und stiftet das unglückliche Bewußtsein der Deutschen, die wiederum nach einem Wort Nietzsches, von vorgestern und übermorgen sind. Der Historikerstreit ist dann zu Ende, wenn die Gesellschaft fähig wird, sich für die Lösung der gegenwärtigen Aufgaben zu mobilisieren.