„Das waren alle keine Chorknaben“

■ Interview mit Hermann Weber, Professor für politische Wissenschaften und Zeitgeschichte in Mannheim und Spezialist für die Geschichte der KPD

taz: Herr Weber, hat Herbert Wehner im Jahre 1937 Mitglieder der KPD ans Messer der Vorläuferin des KGB (NKWD) geliefert?

Weber: Nach meiner Einschätzung nicht, weil die NKWD zwar in vielen Fällen Vernehmungen deutscher Kommunisten ausgenutzt hat für ihre eigenen Machenschaften, aber keiner dieser Kommunisten, auch Wehner nicht, Einfluß darauf nehmen konnte, wer in die Mühle der NKWD geriet.

Reinhard Müller hat in seinem Buch „Die Akte Wehner“ einen Brief Wehners an Pieck veröffentlicht, in dem Wehner noch nicht verhaftete Genossen angreift und eine Untersuchung gegen sie fordert. War das eine Denunziation?

Wenn man es streng nimmt, ja. Bloß war diese Form von Denunziationen in den innerparteilichen Querelen der KPD in der Emigration das übliche. Umgekehrt haben die von Wehner Angegriffenen genauso verlangt, daß sein Fall untersucht würde. So geschah es auch. Ich kann dazu nur sagen, daß Wehner, nachdem er gesehen hat, was „Säuberung“ bedeutet, versucht hat, seinen Kopf zu retten. Wir haben hier diese merkwürdige Verbindung alter und neuer innerparteilicher Auseinandersetzungen mit der Todesangst der Betroffenen als Katalysator.

Auf Leo Flieg könnte man das nicht münzen, denn der hatte Wehner vorher ja nicht belastet.

Flieg war eine Art Vorgänger Wehners im Politbüro, ehe er 1932 herausflog. Er war Kontrahent Wehners in den Fraktions- besser den Cliquenkämpfen vor und nach 1933. Aus den „Notizen“ Wehners ist zu entnehmen, daß er glaubte, Flieg wolle ihn für die Verhaftung Ernst Thälmanns verantwortlich machen. Es ist nicht auszuschließen, daß Wehner mit dieser Vermutung recht hatte.

Glauben Sie, daß Wehner aus den Erfahrungen seiner illegalen Arbeit in Deutschland heraus, ehrlich gegen die linkssektiererische Linie der Schule-Schubert-Gruppe Stellung nahm, oder war das ein opportunistisches Manöver.

Beides, die scharfen Kämpfe der Jahre 1933 hatten sicher zu persönlichen Verhärtungen geführt. Man braucht nur nachzulesen, wie Wehner später beispielsweise über Schubert geurteilt hat. Hat Wehner aus Überzeugung gehandelt? Ja, auch. Aber das waren alles keine Chorknaben. Das waren wirklich ausgebuffte Parteitaktiker. Aber es kommt dann auch mit Sicherheit dieses opportunistische Moment hinzu, wie kann ich hier meinen Kopf aus der Schlinge ziehen, ehe die da...

Müller berichtet, daß die Kontrollkommission des Exekutivkomitees der Komintern (EKKI) nach dem Ende von Untersuchungen die Namen derjenigen rot markierte, die vom NKWD verhaftet werden sollten. Paßt das zur These von der Machtlosigkeit der Komintern-Behörden?

Alle bei der Komintern Arbeitenden waren darauf abgerichtet, egal ob sie es zuerst glaubten oder nicht, nach außen zu behaupten: Wir sind von Feinden in den eigenen Reihen umzingelt. Es gibt eine große Zahl von Feinden, die eben jetzt gefunden und ausgeliefert werden müssen. Ich verweise immer wieder auf dieses Dokument des ZK der KPD von 1937, wo die Funktionäre sich bis in die Einzelheiten des Jargons hinter die Schauprozesse und deren Auswirkungen stellten. Sie hatten mittlerweile alles verinnerlicht.

Also, hatte die KPD die Möglichkeit, NKWD-Verfahren in Gang zu setzen?

Nach meinem bisherigen Kenntnisstand war das ganz unwahrscheinlich. Wenn sie zum Beispiel den Hinweis gegeben hätten, schaut euch diesen Fritz David an, der ist ein versteckter Trotzkist, hätte die NKWD sofort zugeschlagen. Das hätte in ihre Pläne gepaßt. Aber so war es gerade nicht. Mir ist kein Fall bekannt, wo die KPD in der Lage gewesen wäre, mehr zu tun, als zu sagen, hier kommen die Listen von der EKKI-Kontrollkommission. X und Y sind verhaftet, also werden sie rausgeworfen. Wenn man sich den Mechanismus nur mal anschaut, dann waren die deutschen Kommunisten die, die bestenfalls reingeraten sind, aber nicht die, die das Räderwerk hätten in Gang setzen konnten.

Kann man sagen, daß das System der Kaderüberprüfungen und Kontrollen in der Zeit vor den großen „Säuberungen“ die späteren Methoden während des großen Terrors 36 bis 39 präformiert hat?

Ich neige dazu, das so zu sehen. Nehmen wir mal eine durchschnittliche Parteiuntersuchung vor 1933 mit dem ganzen Ritual des Linienkampfs, der Selbstbezichtigungen etc. Die Frage war damals nur, ob man rausgeschmissen wird, eine für die Betroffenen allerdings oft existentielle Frage. In Moskau wurde das dann „auf eine höhere Stufe“ gehoben. Rette ich meinen Kopf, oder verliere ich ihn? Andererseits waren die Kommunisten auch gänzlich neuen, geheimpolizeilichen Methoden ausgesetzt. Viel scheint mir für eine „Prädisposition“ zu sprechen, aber das ist eine Sache der Forschung.

Es gibt also eine Kontinuität?

Ja, und das gilt für die KPdSU in noch weit stärkerem Maße als für die KPD. Seit dem Ende der innerparteilichen Auseinandersetzungen mit der Niederlage Trotzkis kann man beobachten, wie die Opposition schrittweise vor Stalin kapituliert, wie sie die Selbsterniedrigung, die auf abscheuliche Weise in den Schauprozessen vorgeführt wurde, einübt. Ohne diese „Vorgeschichte“ wären die Moskauer Prozesse so nicht verlaufen.

Kann man sagen, daß Wehner in der SPD im Kern der gleiche geblieben ist, oder bricht seine Biographie auseinander?

Schwierig. Wehner hat mal gesagt: „Ich bin dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen.“ Er hat wirklich Konsequenzen aus seiner Einsicht gezogen, daß das kommunistische System gesetzmäßig zur Diktatur Stalins führen mußte. Andererseits blieb er ein harter Mann, der seine Ansichten auch mit Härte verteidigte. Es gab da einen Zwiespalt bei ihm. Vielleicht hat er doch nicht ganz verarbeitet, was er zwischen 1927 und 1943 erlebt hat.

Haben Sie ihn gekannt?

Ja. Zuerst war es furchtbar schwer, mit ihm zu sprechen. Aber dann gab es kein Halten mehr. Gut, 1937 war er um die dreißig, und zwanzig Jahre später glaubte er, er habe seine Vergangenheit im Griff. Aber innerlich hat es in ihm gewühlt. Denken sie an seine Wutausbrüche, das war ja nicht nur Schauspielerei... Das Interview führte

Christian Semler