„Die tun nichts für uns, diese Hunde“

Das selbstverwaltete Thomas-Weißbecker-Haus in Kreuzberg, seit zwanzig Jahren Heimat für jugendliche Trebegänger, Stricher und Bettler, kämpft beständig ums Überleben  ■ Von Holger Gertz

Nein, von Zuhause erzählt Mark nicht gern. Warum auch? Wer erzählt schon gern von ständigem Knatsch mit den Eltern, von Stress in der Schule, vom prügelnden Vater, von Alkohol. Wer gibt schon gerne zu, daß er mit 16 abhauen mußte, weil alles nicht mehr auszuhalten war. Daß er rumgereist ist in der halben Republik, ein Habenichts ohne Geld, ohne Papiere. Bis ihm einer in der Hamburger Hafenstraße, bei dem er kurz untergekommen war, von Berlin erzählt hat und vom Thomas-Weißbecker-Haus, wo sie Platz haben für Kinder, die nicht wissen wohin. Seit Februar wohnt Mark im Haus. Ganz gut gehe es ihm da, sagt er, die anderen Jungs sind nett, die Stadt gefalle ihm auch, „so ähnlich wie Köln“, wo er herkommt. So bald wie möglich will er sich in der Schule anmelden. Im Moment geht das nicht, weil die Eltern die Papiere noch nicht geschickt haben.

Abhauen von Zuhause, auf Trebe sein. Nichts hat das zu tun mit romantischen Geschichten von verwegenen Herumstreunern. Auf Trebe sein, das bedeutet oft auf den Strich gehen, das bedeutet kriminell werden, verkommen. „Vor ein paar Wochen kam ein Vierzehnjähriger her, der hatte solche Krätze, den mochte keiner anfassen.“ Der das sagt, heißt Carlos, und eigentlich hat er keine Berührungsängste, was jugendliche Trebegänger betrifft. Mit dreizehn Jahren ist er selbst von Zuhause abgehauen und gehörte zum Gründungspersonal des Thomas-Weißbecker-Hauses, in dem er einst betreut wurde und seit vielen Jahren selber betreut.

Carlos hat alles miterlebt. Wie das Haus besetzt wurde 1973, als erstes in Berlin. Wie sie es nach Thomas Weißbecker benannten; einem Autonomen, der von der Polizei erschossen wurde (die Bewohner und Mitarbeiter nennen es seither liebevoll Tommi-Haus). Wie sie es renovierten und umbauten, den Dachboden und das Erdgeschoß. Oben bieten Sportvereine Training an, den unteren Trakt können Bands mieten oder Hochzeitsgesellschaften. Dazwischen liegen die Etagen für die Jugendlichen. 40 leben momentan hier, für 300 Mark Miete im Monat. Minderjährige, die länger bleiben wollen, müssen eine Erlaubnis der Eltern auftreiben.

Carlos kennt die Geschichte des Tommi-Hauses, die auch eine Geschichte eines fortwährenden Streites um Unterstützung ist, ein permanenter Überlebenskampf. 200.000 Mark gibt es pro Jahr vom Senat, davon müssen Hausmeister, Sozialarbeiter, Verwaltungskraft bezahlt werden. Die laufenden Kosten sind hoch, Ende 91 wurde der Erbpachtzins von 19.000 auf 45.000 DM erhöht. Seitdem die Behörde vor zwei Jahren die Zuschüsse kürzte — unter anderem werden die Betriebs- und Energiekosten für Erd- und Dachgeschoß nicht mehr übernommen — ist die Not so groß wie nie. Die Einnahmen reichten gerade aus, den Laden am Leben zu halten, sagt Tommi, der auch schon seit fast zwanzig Jahren dabei ist: „Aber für sozialpädagogische Arbeit, für neue Konzepte, bleibt nichts.“ Vor ein paar Jahren hätte es beinahe geklappt mit einem neuen Konzept. Eine Ausbildungswerkstatt sollte eingerichtet werden, die Behörden hatte ihre Zustimmung schon signalisiert, eine ABM-Stelle war beantragt. Aber dann gaben die Politiker doch kein Geld, das Projekt starb, und seither schiebt Carlos Zorn: „Nichts tun die für uns, überhaupt nichts, diese Hunde.“

Warum droht der Einrichtung immer wieder der Tod, wo doch ihr therapeutischer Wert unbestritten ist? Nach außen hin, sagt Carlos, versuche die Stadt sogar, mit dem Haus zu werben: „Ruf beim Goethe-Institut an, da werden wir geführt, als Beispiel für funktionierende Sozialarbeit.“ Tatsächlich aber stünde das selbstverwaltete Tommi-Haus im Ruf, eine Brutstatt der Kriminalität zu sein. Vor zwei Jahren war das Projekt kurz vor dem Absturz, als sich eine Frau in den Räumen den goldenen Schuß setzte. Die Behörden ermittelten, und die Mitarbeiter des Tommi-Hauses suchten nach Wegen aus der Krise. Das ursprüngliche Konzept, alle Herumstreuner aufzunehmen, wurde verworfen. Wer heute dabei erwischt wird, daß er harte Drogen konsumiert oder verkauft, fliegt raus. Genau wie derjenige, der mehrere Monate keine Miete zahlt. Die Zeiten, als sich 50.000 Mark Mietrückstände ansammelten, sind vorbei. „Die Leute“, sagt Tommi, „müssen lernen, sich an gewisse Regeln zu halten.“

Einge haben diese konzeptionellen Änderungen nur widerwillig mitgetragen. Carlos zum Beispiel, der am liebsten alle dabehalten würde, auch Junkies, „weil sie doch nicht schuld sind an ihrem Elend, weil es doch die Gesellschaft ist“. Er hat sich gefügt, um das ganze Projekt nicht zu gefährden. Jetzt allerdings fürchten alle im Tommi-Haus, daß das Ende bevorsteht. Schräg gegenüber baut die SPD ihre neue Parteizentrale, Ende 95 soll sie bezugsfertig sein. Für Carlos und Tommi ist das eine Schreckensvision. Nicht nur, daß wieder Grünflächen vernichtet werden, daß die ganze Region unter Baulärm und Dreck wird leiden müssen. Die Überwachung des Parteigebäudes, sagt Tommi, werde die Bewohner in ihrer Freiheit einschränken, Personenkontrollen werden alltäglich sein, Zivilfahnder das Areal filzen. „Und wenn mal was passiert, ist ja klar, wer das war.“

SPD-Chef Engholm hat er mehrere Briefe geschrieben, aber der hat nicht reagiert. Daraufhin hat Tommi so oft in Bonn angerufen und „einen tierischen Larry gemacht“, bis er schließlich Fraktionschef Klose an der Strippe hatte. Überhaupt nicht eingegangen auf ihre Probleme sei der, nur ganz kumpelig habe er dahergeredet und gesagt, daß keiner sie kontrollieren wolle und vertreiben schon gar nicht.

Weil die in Bonn sich nicht regen, wenden sich die Leute aus dem Tommi-Haus an die Basis in Kreuzberg. Neulich, bei einer Veranstaltung mit dem Kreuzberger Bezirksbürgermeister Peter Strieder, haben sie dazwischengerufen und ihm vorgeworfen, er und seine Genossen wollten die Armen rauswerfen, um aus Kreuzberg ein repräsentatives Viertel machen zu können. Was Strieder natürlich heftig dementiert. Keiner wolle das Tommi-Haus aus Kreuzberg verbannen, sagt er, „es ist doch eine verdiente Institution“. Aber als er über die Angst der Bewohner vor der polizeilichen Überwachung spricht, rutscht ihm doch eine Formulierung heraus, die belegt, welche Wertschätzung nicht nur er den Leuten im Thomas- Weißbecker-Haus tatsächlich entgegenbringt: „So wichtig, wie Sie sich nehmen, sind Sie nicht.“