„Von dem Dreck haben wir gut gelebt“

Aufräumarbeiten nach dem Giftunfall der Hoechst AG in Frankfurt verwüsteten Kleingärten/ Der Handel um Entschädigungen hat begonnen/ Hoechst AG galt im Einzelfall schon immer als großzügig/  ■ Von Heide Platen

Mitten in der braunen, aufgewühlten Einöde am Flußufer steht das Vereinsheim der Schwanheimer Kleingärtner. Die Gärten sind verwüstet, Bäume und Büsche abgesägt, die Blumenzwiebeln und Knospen der Osterglocken zertreten. Fünf Zentimeter tief haben die Bagger, die Raupenfahrzeuge und Lastwagen die Erde auf einem rund 3.000 Quadratmeter großen Areal gegenüber den Schloten und Kesseln der Hoechst AG auf der anderen Seite des Mains in einer Woche abgetragen. Die SchwanheimerInnen sehen dem Zerstörungswerk vom Rande aus zu. Es sind ihre Gärten, die da von den Männern in den weißen Schutzanzügen mit den Atemmasken vor den Gesichtern bis unter den Erdboden gleichgemacht werden. Sie schwanken zwischen Zorn und Fatalismus. „Mit dem Gestank zu leben“, sagt einer, „daran hatten wir uns ja seit Jahren gewöhnt.“ Bittere Ironie, drastischer Humor, Resignation und ein gerüttelt Maß Pragmatismus machen sich Luft im Stadtteil der Arbeiter und kleinen Angestellten, seit die gelbe, klebrige Giftwolke aus o-Nitroanisol und anderen Stoffen in der Nacht zum 22. Februar das „Goldene Schwanheim“ mit einem gelblichen, klebrigen Giftfilm überzog. Die Entsorgung zwischen der Uferstraße und dem Rand des Schwanheimer Waldes mit den uralten Eichen – sommers ein beliebter Spazierweg zu den Apfelweinlokalen und einem kleinen Tierpark – kommt mit gespenstischer Präzision voran.

Daß der Vorstandsvorsitzende der Hoechst AG, Wolfgang Hilger, nach langem Schweigen doch noch in einer eilig einberufenen Pressekonferenz recht kleinlaut und mit pastoraler Stimme um Entschuldigung bat, beeindruckt die Menschen wenig: „Das haben die immer getan. Sich entschuldigt!“ Das war bisher bei all den zahlreichen Störfällen auch nicht so sehr das, was die Menschen hier interessiert hat. Die örtliche Flüsterpropaganda bei denen, die mit und von der Chemieindustrie leben mußten, war eine ganz andere. „Unser geflügeltes Wort war: Wir haben von dem Dreck bisher immer ganz gut gelebt.“

Die Koexistenz zwischen dem größten ortsansässigen Arbeitgeber – neben dem Rhein-Main- Flughafen – und den Schwanheimern hat ihre lange und wechselseitige Geschichte. Einerseits gilt das Konzern-Management als rigide gegenüber aufmüpfigen Betriebsratsoppositionellen und Arbeitern und, auch von der Chemieindustrie kritisiert, als öffentlichkeitsscheu. Andererseits zeigte sich die Firma in paternalistischer Manier in Einzelfällen immer wieder großzügig bei materiellen Entschädigungen nach Störfällen. Kein Wunder also, daß jene Unfälle, die nicht oder erst verspätet öffentlich wurden, zuallererst in der „stillen Post“ im Stadtteil kursierten. Das ging „Fremde“ nichts an. Undefinierbare Chemiewolken, blauer Regen im Werk in Offenbach, klebriger Niederschlag, Gestank, Flecken unbekannter Herkunft auf dem Autodach waren allemal gut, um eine kostenlose Wäsche, eine neue Lackierung für das Auto, einen ordentlichen Schadensersatz oder gar einen neuen Wagen zu bekommen. „Schlangenweise“ hätten die Autobesitzer dafür oft vor den Werkstoren gestanden. Und sie seien von der Firmenleitung, die hier nicht weniger schlitzohrig als die Schwanheimer agierte, immer wieder gemahnt worden, dieses Procedere besser nicht „an die große Glocke“ zu hängen. Sonst nämlich, so die augenzwinkernde Mahnung, gebe es das nächste Mal keinen Pfennig mehr.

Diejenigen, die da aus dem Nähkästchen der zwar rauhen, aber doch einvernehmlichen Koexistenz plaudern, wollen namentlich lieber nicht genannt werden. Noch ist der Kampf eines Mitarbeiters nicht vergessen, der einem Fernsehmagazin anonym über Schlampereien im Betrieb berichtet hatte. Die Firmenleitung engagierte einen Experten für Stimmentzerrung und schickte dem von ihr ausgemachten Missetäter die Kündigung.

Zu solchen Erfahrungen kommen immer wieder die Drohungen des Konzerns, Betriebsteile in billigere Produktionsländer zu verlegen. Der Protest in Schwanheim regte sich deshalb nie allzu heftig. Auch Umweltschützer hatten mit ihrer Kritik meist einen schweren Stand. Sie wurden eher als Bedrohung des Arbeitsplatzes und als Spinner empfunden. „Umweltschützer“, so ein Betroffener, „das war hier immer ein Schimpfwort.“

„Wir haben alle gewußt, daß das hier kein Luftkurort ist“, spottet einer. „Immerhin“, sagt ein anderer mit Blick auf die Bagger, „so sauber wie jetzt haben die Gärten noch nie ausgesehen!“ Das täuscht. Die Gegend, das zeigen ältere Untersuchungen, war schon vorher hoch mit Blei und Quecksilber belastet.

Daß die betriebsinternen Strukturen Unfälle nachgerade produzieren, wissen alle „Hoechstler“. Im Lauf der letzten Jahre sind Hunderte von Arbeitsplätzen abgebaut worden. Weniger Menschen müssen mehr Anlagen beaufsichtigen. Die Schichten dauern je zwölf Stunden, von 6 bis 18.15 Uhr und von 18 bis 6.15 Uhr. „Aber“, erklärt einer, „die Arbeiter wollen das so. Dann haben sie mehr Freizeit – zum Beispiel für ihren Kleingarten.“ Daß der Unfall gegen Ende der Nachtschicht geschah, wundert niemanden. Es ist ein offenes Geheimnis, daß zwischendurch in den Ecken auch mal „eine Mütze voll Schlaf“ genommen wird. Selbst wenn das nicht der Fall wäre, sagen Insider, „kommen nachts auch so mehr Fehler vor“. Markus W. hat dem Konzern schon vor einigen Jahren den Rücken gekehrt. Er zeigt Fotos, die er in einer der alten Anlagen Mitte der 80er Jahre heimlich aufgenommen hatte. Dort sei zwar der harmlosere Stoff Acetaldehyd hergestellt worden, aber er habe „die Schnauze voll“ gehabt, weil das Kühlsystem der Anlage nie richtig funktionierte. Hautreizungen durch Dämpfe und Überschwemmungen mit Chemikalien, Lecks und das „Not-Aus mindestens einmal im Monat“ seien „normal“ gewesen. Schutzgeräte seien wieder abgebaut worden.

Daß viele Berichte aus dem Betrieb auch Übertreibung und Arbeiterlatein sind, weiß Thomas Schlimme von der örtlichen Bürgerinitiative der „Höchster Schnüffler & Maagucker“. Dazu zählt er das immer wieder auftauchende Gerücht, daß „1985 oder 1986 oder so“ zwei Arbeiter in einem Rührwerk ums Leben gekommen seien.

Die nachdenklichen Stimmen im Stadtteil kommen vor allem von den Frauen. Sie haben nach Lektüre des ersten Informationsflugblattes, das riet, den gelben Film gründlich abzuwaschen, geputzt und geschrubbt. Sie sind zornig, seit sie wissen, daß der Hautkontakt mit o-Nitroanisol gefährlich ist. Sie haben sich Gedanken darüber gemacht, was gegessen werden kann und ob die Kinder Schaden nehmen könnten. Die „Schwanheimer Mütter“ koordinierten die Verschickung von 106 Kindern nach Mallorca und die Aufnahme bei Familien in nicht belasteten Gebieten. Es hat Ehekräche und Trennungen gegeben. „Die Männer“, sagt eine, „haben sich als richtige Waschlappen erwiesen. Die haben uns nur die Zeit gestohlen, weil sie immer nur davon geredet haben, ob sie selber mit dem Zeug in Kontakt gekommen sind.“ „Die Männer“, ist das Fazit, sehen sich immer nur „als Einzelfall“. Daß das Leben im Rhein-Main-Gebiet sowieso ein „Tanz auf dem Vulkan“ sei, wollten sie noch immer nicht begreifen.

So sitzen denn auch etliche Frauen während der Versammlung des Kleingartenvereins Schwanheim im Vorraum und mokieren sich. Ihrem Ärger laut Luft zu machen, das trauen sie sich öffentlich aber doch nicht. Im Saal wird in Schwanheimer Manier verhandelt. Die Vorwürfe gegen die Hoechst AG halten sich in engen Grenzen. Es wird vielmehr nachgefragt und vorgerechnet. Wie hoch ist der Wert eines zehn Jahre alten Obstbaumes zu veranschlagen? Wer zahlt die Zäune? Die waren sowieso verrostet. Was dürfen neue Stauden, die Erdbeeren kosten? Können die Geräte aus den Vorräumen der Lauben, die „jetzt Sondermüll sind“, auf die Rechnung gesetzt werden? Ein Zwischenruf ist eher leise: „Du hattest da wohl eine goldene Harke?“

Günter Laubert von der Hoechst AG stellt sich als Naturfreund und Hobby-Imker vor. Er ist freundlich und verbindlich, tröstet und beruhigt und sagt kontinuierliche Boden- und Pflanzenproben zu. Niemand murrt. Er wundert sich selber, daß auch hier wieder Politiker und Behörden strenger als er ins Gebet genommen werden. Helmut Arnold vom Landwirtschaftsministerium muß sich härtere Fragen gefallen lassen. Laubert staunt: „Ich habe neulich schon gesagt, die sollen ihre Aggression doch etwas mehr gegen uns als gegen die Politiker richten.“ Das dürfte schwer sein, denn der Respekt vor dem Arbeitgeber sitzt tief.

Aber es darf gekrittelt werden. Die neuen Laubendächer – Zwischenruf: „In den alten war doch sowieso Asbest“ – sind von den Arbeitern nicht sachgemäß ausgetauscht, bei der Montage ist gepfuscht worden. Laubert bittet um Verständnis für die Überlastung der rund 200 Hoechst-Arbeiter, die, neben Firmen und Stadt, zur Entsorgung im Stadtteil eingesetzt sind. Von deren Unlust an der Aufgabe sagt er nichts. Die haben statt dessen die Hausfrauen zu spüren bekommen, deren Wohnungen und Fenster die Trupps entsorgen, also gründlich putzen mußten. „Die haben mir ganz klar gesagt, daß ihnen das stinkt.“ Sie hätten deshalb auch „allerpünktlichst“ Feierabend gemacht. Gegen den Einsatz gewehrt hätten sie sich allerdings auch nicht. „Die müssen das doch!“ Außenstehenden gegenüber halten die Hoechst-Männer in den Schutzanzügen lieber den Mund oder werden ärgerlich. Zwei, die eine Hecke unter den kritischen Augen der Gartenbesitzerin – „Da oben muß aber noch!“ – zurechtstutzen, reagieren ganz besonders brummig: „Klar macht uns das Spaß! Prima Arbeit in frischer Luft!“

Währenddessen warnt ein Informationsblatt der Stadt schon vor Haustürbetrügern, die „Geschäfte mit der Angst“ machen wollen: „Kaufen Sie niemandem an der Haustür angeblich notwendige Sicherheitsutensilien ab.“ Thomas Schlimme von der Bürgerinitiative rät zu Langzeitmaßnahmen: Da bisher niemand wisse, was der Hoechster Gift-Cocktail, der von der Firma verschämt „das Produkt“ genannt wird, langzeitig an Schäden anrichten könne, sei es sehr wichtig, persönliche schriftliche Protokolle über körperliche Reaktionen und den Kontakt mit dem Gift anzufertigen. Diese könnten bei der BI gesammelt und hinterlegt werden. „Schreiben Sie das auf, am besten mit Uhrzeiten“, rät er immer wieder. Denn bei ihm und den Ärzten laden die Menschen das ab, was sie öffentlich nicht so laut zu sagen wagen: „Sie sind unsicher und haben Angst.“