Damit die Chemie stimmt

■ Vor zehn Jahren stieß die Anthologie „Bitteren Pillen“ erstmals mächtig auf

Zehn Jahre ist es jetzt her. Die „Bitteren Pillen“ lösten bei Pharma-Industrie und Ärztefunktionären wüste Proteste aus. Die Lobbyisten sahen das Verhältnis von Patient und Arzt gestört und sogar die Krankenversorgung beeinträchtigt. Objekt der Aggression war eine journalistische Pioniertat, die den medizinischen Laien über die Nebenwirkungen des Arzneimittelmarktes aufklärte. Das florierende System der „Halbgötter in weiß“ und ihrer Kumpanen mit den bunten Schluckperlen witterte Gefahr für seine Geschäfte. Das Deutsche Ärzteblatt sprach von „eine(r) Zumutung von der ersten bis zu letzten Seite“.

Die Zeiten ändern sich. Die demokratische Abstimmung der Bürgerinnen und Bürger im Land setzte ein eigenes Signal: Seit 1982 sind über 1,5 Millionen „Bittere Pillen“ verkauft worden. Der kritische Ratgeber über Nutzen und Risiken der Arnzeimittel ist zum unentbehrlichen Hilfsmittel für den mündigen Patienten geworden. Das Buch veränderte den Arzneimittelmarkt.

Inzwischen freut der Bevölkerungsaufstand gegen die Pillenflut auch große Teile der Ärzteschaft. Denn die Bedürfnisse der kritischen Arzneimittel-Konsumenten decken sich mit den Zielen der selbstkritischen und reformbereiten Teile der Ärzteschaft.

„Bittere Pillen“ ist kein Buch gegen Medikamente. Im Gegenteil: Die Beurteilung der gebräuchlichsten Arzneien hilft zu ihrem sinnvollen Gebrauch. Die gezielten Sachinformationen setzen den einzelnen Patienten in die Lage, mit dem Arzt die Medikamenten- Verordungen besprechen zu können. Der Patient wird so mündigerer Gesprächspartner für den Arzt. Dies hilft beiden! Ein Arzneimittel ist nämlich per Definition ein Stoff plus eine Information. Diese sollte der Gesundheit des Patienten und nicht dem Umsatz des Produzenten dienen.

„Bittere Pillen“ trägt dazu bei, daß Patient und Arzt sich verständnisvoller begegnen können. Dies begründet ein „Reform- Klima von unten“. So gesehen ist das Buch ein Hoffnungsstreif am düsteren Horizont der Kostendämpfungsgesetze im Gesundheitswesen. Ein vernünftiger Arzneimittel-Konsum läßt Milliardenbeträge freisetzen, die für mehr menschliche Zuwendung besser investiert sind. Die dänische Bevölkerung kommt mit einem Fünftel, die österreichische mit einem Drittel der deutschen Pro-Kopf- Ausgaben für die Arzneimitteltherapie aus. Dies entspricht einer Optimierungsreserve im deutschen Gesundheitswesen von 15 bis 20 Milliarden DM. 50.000 Ärzte oder 100.000 Krankenpflegekräfte kosten zur Zeit einen Arbeitgeber nur fünf bis sechs Milliarden DM. Die Umverteilung von chemischer zu kultureller Zuwendung macht auch unternehmerischen Sinn: Im Unternehmen Gesundheitswesen sollten die Ressourcen für gesundheitliche Ziele der Bevölkerung eingesetzt werden. Handeln statt Schlucken ist für den Patienten und Bürger angesagt.

Jetzt ist die „Jubiläumsausgabe“ der „Bitteren Pillen“ völlig neu überarbeitet erschienen. Das Buch zeigt, daß in den vergangenen Jahren mehr als 1.000 zweifelhafte, unwirksame oder mit unvertretbaren Nebenwirkungen behaftete Medikamente aus den Apotheken verschwunden sind. Nur 40 Prozent der vor zehn Jahren bewerteten Medikamente sind in der jüngsten Ausgabe noch vertreten. Über 60 Prozent sind Neueinführungen oder alte Medikamente in neuer, aber sinnvollerer Zusammensetzung. Die Spalt-Tablette hat ihre Zusammensetzung beispielsweise viermal verändert. Jetzt ist aus dem Kombinationspräparat mit der Bewertung „abzuraten“ eine „sinnvolle und therapeutisch zweckmäßige“ Kopfschmerztablette geworden.

Die Ärztekammer Berlin hat gemeinsam mit dem Verlag die 65. Auflage des Werkes der Öffentlichkeit vorgestellt. Dies spiegelt am besten wider, wie sehr sich in Deutschland die Stimmung im Gesundheitswesen verändert hat und Lobbyisteninteressen zurückgedrängt worden sind. „Bittere Pillen“ bewertet die 2.300 meistverkauften Arzneimittel in Deutschland. Der neue ostdeutsche Pharmamarkt ist berücksichtigt, und auch Naturheilmittel oder homöopathische Arzneien werden kritisch besprochen. Der Ratgeber ist wieder auf dem neuesten Stand von Wissenschaft und Forschung. „,Bittere Pillen‘ ist die Bibel zur Verhinderung von Arzneimittelmißbrauch – ein Meisterwerk“, meint Professor Georges Peters, der Direktor des Pharmakologischen Instituts der Universität Lausanne. Der gute Hausarzt weiß heute: Das Buch ist ein unverzichtbares Standardwerk für jeden Arzt-Schreibtisch und den Bücherschrank des nichtärztlichen Bundesbürgers und schützt vor manch süß-bitterem Nachgeschmack. Dr. med Ellis E. Huber

„Bittere Pillen. Nutzen und Risiken der Arznei. Ein kritischer Ratgeber“. Überarbeitete Neuausgabe 1993-1995, hrsg. von Kurt Langbein, Hans Peter Martin, Hans Weiss, Kiepenheuer&Witsch, 1055 Seiten, 39,80DM

Präsident der Berliner Ärztekammer