Showdown um die Macht in Indien

Die radikal-hinduistische Oppositionspartei BJP bläst heute zu einem gigantischen „Marsch auf Delhi“/ Erste Stufe eines Aktionsprogramms zum Sturz der indischen Regierung  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Indien steht heute vor einer entscheidenden politischen Kraftprobe. Trotz Verbots will die größte Oppositionspartei, die radikal-hinduistische Bharatiya Janata Party (BJP), in der Hauptstadt Delhi eine Großkundgebung abhalten. Die Polizei versucht, mit einem massiven Aufgebot eine Wiederholung der religiösen Zusammenstöße der letzten Monate zu verhindern.

Die BJP hat die geplante Demonstration klar als Beginn eines Programms „direkter Aktion“ deklariert, an dessen Ende der Sturz der Regierung und Neuwahlen stehen sollen. Aber nachdem der hinduistisch verkleidete aggressive Mob im Dezember in Ayodhya und im Januar in Bombay und Ahmedabad seine Zähne gezeigt hat, kann es sich die Regierung nicht ein weiteres Mal leisten, die Auseinandersetzung zu verschlafen.

60.000 Polizisten sind aufgeboten, um in der Hauptstadt den Paragraphen 144 des Strafgesetzbuches – jede Versammlung von fünf und mehr Personen ist verboten – durchzusetzen. Der berühmte „Boat Club“ ist mit Stacheldrahtrollen umzäunt und von einem vierfachen Sicherheitskordon umgeben. Da es sich dabei nicht um einen idyllischen Klub mit Teich und schaukelnden Booten handelt – in Wahrheit ist es die breite grasbewachsene Avenue zwischen dem Denkmal des Unbekannten Soldaten und dem Präsidentenpalast, auf dem die politische Klasse Indiens ihre Großanlässe feiert – heißt dies, daß der ganze Regierungsbezirk praktisch abgeriegelt wird.

In den letzten Tagen hat die Polizei Zehntausende von BJP- Mitgliedern und -Sympathisanten verhaftet. Alle Zufahrten zur Hauptstadt sind kontrolliert, Bus- Unternehmen wurden die Lizenzen sistiert, Zugfahrten nach Delhi können nur mit Platzreservierung – und nach eingehender Prüfung der Parteizugehörigkeit – angetreten werden. Vor den Toren der Hauptstadt wurden in Zelten und requirierten Gebäuden temporäre Gefängnisse eingerichtet, um möglicherweise Tausende von BJP- Anhängern unterzubringen, wenn sie sich in alter gandhischer Manier freiwillig verhaften lassen. Kolonnen von Bussen stehen bereit, um die Überzähligen in die Arrestlokale naher Dörfer und Städte abzutransportieren.

Diese Taktik des gewaltlosen Satyagraha aus der Zeit des Unabhängigkeitskampfes ist noch immer ein beliebtes Mittel friedlichen Protests, und die BJP wird damit versuchen, aus dem Demonstrationsverbot Gewinn zu schlagen. Die Partei hat angekündigt, daß angesichts der „beispiellosen Repression“ nicht ein zentrales Happening, sondern „Hunderte von Kundgebungen“ sozusagen spontan stattfinden werden. Aber dennoch nehmen die Behörden keine Risiken auf sich, um so mehr, als wahrscheinlich bereits Tausende Demonstrationswillige in die Stadt geschlurft sind, seitdem die Regierung am 10.Februar das Rally untersagte.

Auch die Vorbereitungen zahlreicher Friedenskomitees zeigen, daß es diesmal nicht nur um das übliche eingespielte Ritual friedlichen Protestes geht: In allen Quartieren der Stadt verteilen Freiwillige Zettel mit Telefonnnummern für den Notfall, vor allem an muslimische Bewohner. Bei Zwischenfällen oder drohenden Zusammenrottungen kann man so mit einem lokalen Komitee Kontakt aufnehmen, welches wiederum direkt mit einem Kontrollraum des Innenministeriums verbunden ist.

Heerschau mit Slogans

Die Regierung kam um ein Verbot nicht herum. Denn die BJP hat die Großdemonstration als Heerschau angekündigt, von der Hunderttausende mit Inbrunst und Slogans versorgt in ihre Heimatgegenden zurückgehen würden, um von dort eine regierungsfeindliche Welle politischer Aktivität auszulösen. Das Datum der Veranstaltung in der Nähe des Parlamentsgebäudes war auf den Beginn der Haushaltsdebatte festgelegt worden. Ebenso wie die Debatte über ein Ayodhya- Weißbuch der Regierung würde dies genügend Angriffspunkte bieten, um die Wirkung der Straßenagitation durch eine Lähmung der Parlamentsarbeit zu vergrößern.

Die BJP verlangt im wesentlichen die Errichtung eines hinduistischen Ram-Tempels am Ort der zerstörten Moschee von Ayodhya, die Wiederzulassung der seither verbotenen Hindu-Organisationen, die Wiedereinsetzung der drei entlassenen BJP-Provinzregierungen und allgemeine Neuwahlen. Der unverfrorene Forderungskatalog zeigt, daß die BJP die Regierung provozieren kann, indem sie deren lahme Reaktion auf das Ayodhya-Desaster ausnützt: Das Versprechen von Premierminister Rao am Abend des 6.Dezember, die Moschee wieder zu errichten, war zwar gut gemeint und sollte die Schockwirkung auf die muslimische Minderheit dämpfen, war aber eine Verpflichtung, die politisch nicht einzulösen ist. Selbst Hindus, die der Fall der Moschee empört hatte, kritisieren eine Wiederherstellung des Gebäudes am gleichen Ort als Rückkehr des religionspolitischen Problems auf den Status quo ante.

Noch verhängnisvoller war die Entlassung der drei BJP-Regierungen von Himachal Pradesh, Madhya Pradesh und Rajasthan gewesen. Die Ausschreitungen waren dort nicht schlimmer als anderswo und rechtfertigten nicht die Ausrufung der präsidialen Direktherrschaft. Quer durch die Parteien hindurch wurde die Absetzung als verfassungsfeindlicher Akt gebrandmarkt. Er entzog der Regierung in einem Augenblick ihr wichtigstes politisches Argument – die ungesetzliche Eskalation der BJP im Vorfeld der Zusammenrottung von Ayodhya –, wo sie es am dringendsten brauchte. Delhis Schweigen angesichts der krassen Inkompetenz der inzwischen zurückgetretenen Kongreß-Regierung im Bundesstaat Maharashtra während der Unruhen in dessen Hauptstadt Bombay rückten den politischen Mißbrauch von Verfassungsnormen in ein noch grelleres Licht.

Die Regierung hat bisher auch jegliche politische Antwort auf die ideologische Herausforderung der BJP vermissen lassen. Statt dessen zeigte die regierende Kongreß- Partei in den letzten Wochen das alte Bild von Diadochenkämpfen, mit einem sphinxhaften Premierminister Rao im Hintergrund, dessen Schweigen für viele zum Ausdruck einer entscheidungsschwachen und führungsarmen Persönlichkeit geworden ist. Eine Sitzung des obersten Parteigremiums endete vor zwei Wochen, nach vieldeutig verschleierten Angriffen von und gegen Raos wichtigsten Herausforderer Arjun Singh, in einer papierenen Absichtserklärung, den „Säkularismus“ als tragende Staatsideologie neu zu beleben.

Das Prestige des Regierungschefs ist inzwischen so weit gesunken, daß eine Zulassung der BJP- Demonstration ihn für die Kongreßpartei zu einem zweifelhaften Asset gemacht hätte, und ein erneutes Aufflammen der Gewalt hätte ihm dann wohl den Kopf gekostet. Mangels einer politischen und ideologischen Alternative war ein Veranstaltungsverbot für Rao daher die einzige Wahl.

Die Regierung kann sich, wenn sie überleben will, kein erneutes Aufflammen religionspolitischer Gewalt erlauben. Aber auch in der BJP gibt es Stimmen, die mit einem „Marsch auf Delhi“ die Erstürmung der Regierungsgewalt in die Ferne rücken sehen. Die „harte“ Linie um Parteipräsident M. M. Joshi, der auch Fraktionsführer L. K. Advani zuneigt, möchte durch weiteres Aufputschen religiös verbrämter Ressentiments, mit dem kaum verhüllten Feindbild der Muslime im Visier, die Hindu- Mehrheit des indischen Volkes in eine riesige Stimmenbank der BJP umwandeln. Dagegen sträubt sich die alte Garde der Partei unter A. B. Vajpayee, die aus grundsätzlichen und taktischen Überlegungen wenig Gefallen an dieser ideologisierten Ausrichtung findet.

Die moderaten Stimmen fürchten, daß die immer rabiater werdende „Hindutva“-Bewegung zentrale Bestandteile des hinduistischen Ethos, allen voran die religiöse Toleranz, über Bord zu werfen beginnt und damit die Partei von ihren Wurzeln abschneidet. Sie ist sich auch bewußt, daß die städtischen Mittelschichten Indiens trotz ihrer ideologischen Verführbarkeit einem kleinbürgerlichen Konservatismus anhängen, den Brandschatzungen von Straßenmobs zunehmend irritieren. Der Ruf „Chalo Delhi“ – „Auf nach Delhi“ – als Einladung zur Kundgebung und damit zur Eroberung der Macht ist für diese Strömung daher zumindest verfrüht.

Jüngste Umfragen scheinen dieser Ansicht recht zu geben: Sie kommen zum Schluß, daß allgemeine Wahlen heute der Partei einen weiteren Stimmenzuwachs von 113 auf rund 170 Mandate einbringen würden, was aber bei weitem nicht reicht, um die Mehrheit im 543sitzigen Parlament zu erreichen.

Kommentar Seite 10