Lebendige Zellen in der Hellersdorfer Platte

Serie: Die Zukunft der Plattenbau-Siedlungen (Zweite Folge)/ Hellersdorf, wo aus 15 Bauelementen 90 Blockvarianten gebaut wurden, soll eine Stadt mit Charakter werden  ■ Von Rolf R. Lautenschläger

Eine Fahrt, ob mit dem Auto oder Fahrrad, durch die Großsiedlung Hellersdorf am östlichen Rand Berlins gleicht einer Reise über ostdeutsche Landkarten: Links liegt der Kummerower Ring, gefolgt vom Feldberger Ring, dann kommen die Cottbuser Straße und der Cottbuser Platz. Die Zossener geht über in die Luckenwalder Straße, gekreuzt von der Michendorfer Straße – ganz nahe an der Landsberger Chaussee. Über die Neuruppiner Straße und den Havelländer Ring kehrt der Weg nach Osten zur Stendaler, später nach Süden zur Riesaer Straße zurück.

Das Stadt-Straßen-Land Hellersdorf wird von drei autobahnbreiten Trassen eingeklemmt. Eine Mitte, ein Zentrum scheint in dem Rechteck wie zum Trotz gegen die Topographie der historischen Stadtgrundrisse nicht ausgebildet. Eine Ordnung, einen Plan verrät die Siedlung nicht. Die Querstraßen und Abzweige führen zu Autoabstellplätzen und Grünbereichen, Versorgungswürfeln und Brachflächen. Die alte Kastanienallee mit ihrem verbliebenen Baumbestand wirkt wie eine Kulisse im Plattentheater, wie ein Freilichtmuseum aus abgeholzter Zeit.

Großbaustelle der Jugend

Hellersdorf ist eine der jüngeren Großsiedlungen der einstigen DDR. Sie war die „Großbaustelle der Jugend“ und sollte über 100.000 Bewohnern Raum geben. Die Siedlung spiegelt in ihren Straßennamen die Regionen der östlichen Republik wieder. Die Namen sind Erinnerung an die Baukollektive, die quartiersweise die Plattensiedlung um Ringstraßen und Kehren montierten. Heute erinnern die gelblich-grauen Bauten zugleich an kubische Mahnsteine, die in immergleicher Form und Gestalt den Mythos sozialistischer Aufbauleistung verkörpern.

Hellersdorf ist eine monostrukturierte Betonsiedlung, die sich unentwegt selbst zitiert. Die Stereotypie der Fünf-, Sechs- und Elfgeschosser der Wohnbauserie WBS70/B erscheint als unbegreiflicher, abstrakter Charakter. Doch in der Großform der Baukörper lebt eine beinahe kleinteilige Ornamentik der einzelnen Plattenbauten: Das einheitliche Grundmuster in sechs mal sechs Meter, einer Gebäudetiefe von zwölf Meter und einer Zimmerhöhe von 2,80 Meter hinter den dreischichtigen Wandflächen wird „weich“, weisen doch die Gebäude auf eine „Segmentprojektierung“ hin. „Im Rahmen der WBS70/B-Serie war geplant, aus 15 Segmenten 90 verschiedene Wohnblöcke zu kombinieren. In der Großsiedlung Hellersdorf waren 29 Wohnblock-Varianten vorgesehen, die 1988 auf 24 Varianten reduziert wurden“, schreiben Manfred Lamm, Jürgen Gaudig und Heinz Willumat in einer Untersuchung über die Entwicklung des industriellen Wohnungsbaus.

Schiefer Winkel, schräge Töne

Der Analyse liegt eine Abbildung bei, die, fein gezeichnet und unendlich variiert, die „Wohnblock- Varianten“ darstellt: Da sieht man kleine Kästchen (Wohnungen), denen plötzlich ein Eckchen angewachsen ist. Eine winzige Nische preßt sich ein, ein Durchgängchen wird fabriziert. Wagemutig gar erscheinen die Rechtecke, wenn diese aufbrechen, abknicken und plötzlich wie architektonische Lösungen wirken, die der Eintönigkeit und standardisierter Fertigung entfliehen wollten. Aus einem schlechten Wohnungsschnitt macht da ein schiefer Winkel einen besseren. Thema und Variation spielen zwar ein normiertes Spiel, es hat aber manchmal schräge Töne. Ist die Platte also doch nicht so hart? Läßt sie vielleicht neue Außenräume und Interieurs zu?

Ohne Zweifel gleicht das geometrische Schnittmuster von Hellersdorf in seiner Kahlheit einer Stadt wie für Nomaden – von Baunomaden errichtet. Nichts scheint zu binden, zu halten, zur Identifikation gemacht im Einerlei schnell fabrizierter Plattenbauten und gestanzter Verkleidung. Doch das Leitbild der vielgeschossigen, technisch kompakten und kollektiv genutzten baulichen Einheit „Großsiedlung“ ließ einen letzten Rest, ein winziges Stück städtebaulicher und architektonischer Erinnerungs-Gene, „Zellen“ übrig. Für Jack Schmidt, Geschäftsführer der Hellersdorfer Wohnungsbaugesellschaft, bedeuten diese lebendigen „Zellen in der Platte“ die wichtigsten Ansatzpunkte einer neuen städtischen Struktur und baulichen Veränderung: „Die ersten Anhaltspunkte in der nur scheinbaren Gleichförmigkeit für städtebauliche Veränderungen liegen in den unterschiedlichen Figuren der einzelnen Viertel, den topographischen und naturräumlichen Rudimenten und in den Möglichkeiten, die man mit der Platte selbst hat.“

Charakter entwickeln

Die Viertel ließ Schmidt in einem städtebaulichen Gutachten des Stadtplaners Urs Kohlbrenner auf ihre Besonderheiten und Unterschiedlichkeiten, Eigenschaften und Differenzen prüfen. Diese Ergebnisse sollen in Bauwettbewerbe einfließen, deren Aufgabe es sein wird, unterschiedliche Lösungen für die Quartiere und Häuser zu erarbeiten. Die „Viertel und Quartiere werden in ihre speziellen Richtungen weiterentwickelt“, prognostiziert Schmidt. Es könnten Stadtteile entstehen mit unterschiedlicher Ausprägung, Form und Funktion.

Hellersdorf steht quasi noch im Rohbau da. Die Projektionen des Bildes „Stadt“ richten sich auf die riesigen Potentiale an Bauflächen und möglichen Nutzungen, lassen aber auch Zerrbilder wie aus den „unsichtbaren Städten“ zu. Die Siedlung kann aus sich heraus erwachsen werden. Sie kann sich formen und bilden, etwa Grenzen zum östliche Landschaftsraum markieren. Identifikationen für das Viertel aber müssen aus einer inneren städtebaulichen Balance entwickelt werden und weniger aus Folien, die dem Siedlungs- Grundriß übergestreift werden. So zeigen die städtebaulichen Investitionen in Hellersdorf zum Teil „übergestreifte“ Formen. Das 27 Millionen Mark teure Spree-Center mit einer langen Kaufhauspassage dient der Versorgung, nicht dem Städtebau. Es wirkt wie ein zusammengequetschter Big Mäc und nicht wie eine architektonische Delikatesse. Ebenso erscheint das mit 120 Millionen Mark veranschlagte Rathaus mit Hochhaus- Scheibe und Passage ein Gemenge aller nur denkbaren Rathausvorstellungen – der Mittelpunkt der Stadt als ausgeliehenes Zeichen der Baugeschichte?

Übergestreifte Formen

Noch in diesem Jahr soll mit dem „Stadtteilzentrum Hellersdorf“ begonnen werden. Auf einer Freifläche inmitten der Siedlung werden auf 11,6 Hektar Einrichtungen der Bezirksverwaltung und für Kultur entstehen. Zusätzlich zu den Freizeit- und Bildungseinrichtungen werden Investitionen für den privaten und gewerblichen Bereich hinzukommmen, beispielsweise ein Hotel, Restaurants und Warenhäuser. Auf dem Areal werden 700 Wohnungen gebaut. Das Faszinosum des Stadtteilzentrums soll der riesige „Spanische Platz“ werden, an dessen Ecken drei Hochhäuser in den Himmel ragen. Die Planungen der Berliner Architekten Brandt/Böttcher wird die private MEGA-GmbH mit rund zwei Milliarden Mark finanzieren. Im Unterschied zu den Implantaten aus Versatzstücken traditioneller Stadtbaukunst – von denen auch die spanische Variante nicht frei ist – versucht der Entwurf kein ausschließliches Eigenleben in der bestehenden Struktur zu führen, sondern bezieht die angrenzenden Quartiere ein und macht diese zum Bestandteil des Weiterbaus. Die 1.600 Wohnungen, die nach dem Abzug der Baukolonnen 1989 im Rohbau zurückblieben, werden ebenfalls zu Ende gebaut, gleichzeitig mit 325 neuen Wohnungen am Branitzer Platz sowie der Schwimmhalle und anderen sozialen Infrastruktureinrichtungen.

Ökologische Platte

Während die Planungen die noch verschüttete Urbanität durch Zentrenbildung wiederzubeleben suchen, orientieren sich die Vorstellungen der Senatsbauverwaltung am unmittelbaren Umfeld der Bauten sowie an der Flexibilität der Platte selbst. Die Veränderung des östlichen Betongewitters wird zum einen mit dem millionengestützten Forschungsprojekt des Bundes zur Fertigstellung Hellersdorfs unter „ökologischen Aspekten“ anvisiert. Im Zentrum der Überlegungen stehen dabei Pilotprojekte, die dem Bezirk eine neue Identität durch Freiraum- und Landschaftsgestaltung sowie durch bauliche-ökologische Planungen geben. Das Pilotprojekt soll für andere Siedlungen Anwendung finden. Zum anderen stehen die Flexibilität und der Spielraum mit der Platte – jene kleinteilige Ornamentik – erneut auf dem Prüfstand. Die Sehnsucht nach bergenden Stadträumen und der Intimität einer Wohnung geben die Zielsetzung vor: Die Plattenwohnung mit einer normierten Raumgröße von jeweils sechzehn und acht Quadratmeter Grundfläche, einem Flur, einer Naßzelle und einer muffigen Küche mit einem Fensterchen in Nordrichtung gilt als zu geringer Anreiz, um die soziale Segregation zu verhindern.

Umfeld und Wohnkomfort verbessern

Um so mehr setzt Jack Schmidt etwa auf die Verbesserung des unmittelbaren Umfeldes sowie des Wohnkomforts. „Dafür brauchen wir nicht 17.000 Mark, sondern zwei Milliarden Mark – also rund 30.000 bis 50.000 Mark pro Wohnung.“ Neben den künstlerisch gestalteten Fassaden und Hauseingängen richtet sich die Wohnwertverbesserung auf den Schnitt der Wohnung und ihren Grundriß. In der Dokumentation „Großsiedlung“ der Senatsbauverwaltung werden Lösungen zur Umgestaltung der WBS70/B-Kästen vorgestellt. Es sind Ideen, die die Anforderungen an den sozialen Wohnungsbau zum Teil überschreiten und Grundrißänderungen durch Segmentveränderungen anbieten. Durch die Demontage etwa der Naßzellen und nichttragenden Zwischenwände oder die Reduktion der Wandelemente können nicht nur neue Wohnungsgrundrisse, sondern auch andere Nutzungen gefunden werden. Durch den Neubau von Loggienkonstruktionen, Wintergärten und Verglasungen ganzer Balkonbereiche sowie durch Dachaufbauten werden optische und funktionelle Wohnungsverbesserungen gemeistert – hofft man. Außerdem können Vergrößerungen der Wohnbereiche durch Zusammenlegungen erreicht werden.

Der Bezug zur eigenen Wohnung – die im DDR-Bermudadreieck zwischen Arbeitsplatz, Datsche und Trabant keine so wichtige Rolle spielte – wird nun „zum neuen wichtigsten Lebenszentrum für die Bewohner“, urteilt der Stadtsoziologe Bernd Hunger. Die Variations-Modelle der Platte sind richtungweisend. Sie kommen zugleich den Idealen auch des Massenwohnungsbaus näher, die explizit die Individualität des Wohnens betonten.

Die Schaffung unterschiedlicher Wohnräume für eine differenzierte soziale Struktur wird darum ebenso notwendig wie die Errichtung unterschiedlicher Raumformen – innen und außen.

Die dritte und letzte Folge erscheint morgen.