Lernen in ungewisse Zukunft

Bildungsmaßnahmen für Frauen im „Wilden Osten“ sind oft nur gut für weitere Arbeitslosigkeit  ■ Von Regine Hildebrandt

Wenn ich die Erwachsenenqualifizierung in den neuen Bundesländern sehe, beschleichen mich zwiespältige Gefühle – besonders wenn es um Frauen geht.

I.

Ist es denn wirklich so, daß die Menschen im Osten nach der Einheit jetzt allesamt die Schulbank drücken müssen, um die Anfangsgründe des Lebens in der Marktwirtschaft zu lernen? Das ist ein wenig spitz formuliert, trifft aber doch das Empfinden vieler Menschen bei uns, die ja auf eine lange Lebensleistung zurückblicken können.

Das Bildungsniveau in der DDR, besonders das der Frauen, war außerordentlich hoch: 6,7 Prozent der berufstätigen Frauen, und das waren immerhin 92 Prozent aller Frauen, hatten einen Hochschulabschluß, 18,5 Prozent waren Fachschulabsolventinnen, 58,5 Prozent hatten einen Facharbeiterbrief. Dazu kommen dann noch die ungezählten, die wenigstens eine Teilfacharbeiterausbildung hatten. Nicht nur die Berufstätigkeit, sondern auch eine qualifizierte Ausbildung prägte das Leben der Frauen in der DDR. Sie brauchten sich auch in dieser Beziehung nicht hinter den Männern zu verstecken. Das macht selbstbewußt. Und jetzt müssen sich diese Frauen wieder auf den Hosenboden setzen und lernen – in eine immer noch ungewisse Zukunft hinein. Ich will damit nicht sagen, daß Fortbildung und Umschulung für die Frauen aus dem Osten nicht nötig wäre. Die Bedingungen sind jetzt anders, die Anforderungen höher. Der Dienstleistungssektor spielt jetzt auch bei uns eine größere Rolle, und die Bedeutung des gewerblich-technischen Bereichs wird geringer. Außerdem hatte die Erwachsenenbildung in der DDR oft gravierende qualitative Mängel. Lernen ist also nötig. Nur sollte man sich eben bewußt machen, daß das Ausgangsniveau, mit dem die Frauen jetzt in die Bildungsmaßnahmen hineingehen, keineswegs das von ABC-Schützen oder einheitsbedingten Hilfsschülern ist.

II.

Zwei Drittel aller Arbeitslosen bei uns in Brandenburg sind Frauen. Sie werden als erste entlassen und als letzte wieder eingestellt. An Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nehmen überwiegend Männer teil. Genau umgekehrt ist das Verhältnis bei Fortbildung und Umschulung. Von den 4.100 Brandenburgern, die im Januar eine solche Maßnahme begonnen haben, sind 68 Prozent Frauen. Dieses Verhältnis beobachten wir schon längere Zeit. Das wird diejenigen überraschen, die die Geschlechterverteilung bei Qualifizierungsmaßnahmen in den alten Bundesländern kennen. Dort dominieren, wie überhaupt im Erwerbsleben, die Männer.

Die Frauen aus dem Osten kämpfen also um ihren Platz, lassen sich nicht ohne weiteres verdrängen. Sie haben das Lernen gelernt und versuchen, ihre Chance wahrzunehmen. Das ist ermutigend und bestätigt, was ich eingangs sagte.

Allerdings drückt diese Zahl von 68 Prozent auch etwas sehr Niederschmetterndes aus: Qualifizierung von Frauen wird in nicht wenigen Fällen zum Lückenbüßer, zum Ersatz für die immer weniger werdenden Frauenarbeitsplätze. Ich kenne Fälle, wo Frauen schon die zweite oder dritte Bildungsmaßnahme hintereinander absolvieren, ohne daß dies in einen Arbeitsplatz einmündet. Bildung ist in jedem Falle besser als keine – außerdem zahlt das Arbeitsamt ja währenddessen Unterhaltsgeld – aber Bildung kann und darf, besonders in unserer Situation, nicht Selbstzweck werden.

Ich kann nicht aufhören, die Frauen bei uns zu ermutigen, jede Qualifizierungschance wahrzunehmen, die sich bietet, aber andererseits müssen wir auch sehen, wie verzweifelt der Kampf dieser Frauen ist angesichts der immer schlechter werdenden Lage auf dem Arbeitsmarkt. Frauen im Osten werden regelrecht von ihm verdrängt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, die Zustände wiederherstellt, die ins vorige Jahrhundert gehören.

III.

Fortbildung und Umschulung sind ein „Markt“, der rein privatwirtschaftlich organisiert ist. Kein Bildungsgesetz greift hier ein. Den Arbeitsämtern allein obliegt die Entscheidung, was sie fördern und was nicht. Im Bereich der beruflichen Weiterbildung herrscht allein das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Hier gibt es die „Institute“ und „Akademien“ mit teilweise europäischem, globalem oder galaktischem Anspruch. Der größte Teil von ihnen leistet gute und wichtige Arbeit. Aber es gibt auch Bildungsunternehmungen, die die unübersichtliche Lage im „Wilden Osten“ ausnutzen – und das Qualifizierungsangebot nur gut ist für eine weitere Zeit der Arbeitslosigkeit.

Das trifft Frauen bei einem Anteil von 68 Prozent eben doch über die Maßen. In Brandenburg versuchen wir, nach Berliner Vorbild und in Abstimmung mit der Arbeitsverwaltung, durch Weiterbildungsdatenbanken und Weiterbildungsberatungsstellen diesen Markt zu regeln und Frauen wie Männern einen Überblick zu geben, was angeboten wird und was für ihre beruflichen Chancen vorteilhaft ist. Sie sind sicherlich noch zu wenig bekannt, aber ich kann nur empfehlen, diese Beratungsstellen auch in Anspruch zu nehmen.

Ein abschließendes Wort zur Politik: Sie müßte sich dem Engagement der Frauen zumindest ebenbürtig erweisen, aber tut es nicht. Den Bildungswillen braucht man bei uns nicht durch besondere Anreize zu fördern – das Problem liegt auf dem Arbeitsmarkt. Ich will gar nicht weiter ausführen, daß es ein ungeheurer Skandal ist, daß die Bundesregierung die Mittel für die Arbeitsförderung einschränkt, während die Arbeitslosigkeit sprunghaft steigt. Das begreife, wer kann. Ich will auch nicht weiter erörtern, daß Frauen im öffentlichen Dienst und in der Arbeitsförderung wesentlich stärker berücksichtigt werden müssen. Aber: Wenn ich jetzt von Unternehmer- und von Unionsseite höre, daß die wöchentliche Arbeitszeit wieder erhöht werden soll, ebenso wie das Rentenalter, dann frage ich mich doch, ob man schon vergessen hat, daß die Arbeitszeitverkürzung vor allem dazu dient, die immer weniger werdende Arbeit auf mehr Schultern zu verteilen. Es ist doch jetzt schon so, daß diejenigen, die Arbeit haben, sich fast zu Tode schuften, während immer mehr Menschen gar keine Chance mehr haben, an einen Arbeitsplatz heranzukommen. Muß man denn am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wirklich daran erinnern, daß der Mensch kein Rad im Räderwerk der Wirtschaftsmaschine ist, sondern auf seiner Würde besteht?