Warum die Polizei in Rostock zusah

Viermal bat der Polizeiführer Skrocki um Hilfe – doch Einsatzleiter Deckert verwies auf ein „Abkommen mit den Störern“/ „Waffenstillstand“ bestätigt  ■ Aus Schwerin B. Markmeyer und J. Lerch

Der leitende Oberstaatsanwalt von Rostock, Wolfgang Neumann, hat am Montag in der Brandnacht vom 24.August 1992 in Rostock- Lichtenhagen mit dem damaligen Einsatzleiter der Polizei, Jürgen Deckert, über das angebliche Waffenstillstandsangebot der rechten Gewalttäter beraten. Das sagte Neumann gestern vor dem Schweriner Untersuchungsausschuß. Er habe darüber entscheiden müssen, ob mit den Straftätern verhandelt werden dürfe.

Er habe Deckert empfohlen, von den Randalierern zu verlangen, sie sollten sich für 20 Minuten zurückziehen, um zu beweisen, daß sie es ernst meinen. Neumann: „Wir mußten klären, daß wir es nicht mit einem Spinner zu tun hatten.“ Zu einem weiteren Kontakt mit den Gewalttätern sei es seines Wissens jedoch nicht gekommen. Genaue Uhrzeiten konnte Neumann nicht angeben, er sagte aber, das Gespräch mit Deckert habe kurz vor 22 Uhr stattgefunden. Wenig später habe dann ein Polizist der Einsatzleitung gemeldet: „Die ZASt (Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber, die Red.) brennt!“

Neumann bestätigte, daß die Rechten sich selbst davon überzeugen wollten, daß die ZASt geräumt sei. Als er in der Polizeiinspektion gehört habe, die Polizei wolle ihre Kräfte an der ZASt abziehen, habe er zu bedenken gegeben, ob „das nicht eine Milchmädchenrechnung“ sei. Er habe nicht gewußt, daß im Wohnblock neben der ZASt die Vietnamesen eingeschlossen waren. Während seiner Anwesenheit in der Polizeiinspektion habe er den Einsatzleiter Deckert jedoch zu keinem Zeitpunkt von einem „Abkommen“ sprechen hören.

Dabei deutet weiter alles auf ein Abkommen hin, das den Einsatzverlauf beeinflußt hat. Gestern konnte die taz den Original-Bericht des Schweriner Hundertschaftsführers Waldemar Skrocki sehen, der die Polizeiführung schwer belastet (siehe taz vom Montag). Bisher liegt dem Untersuchungsausschuß nur die Abschrift Skrockis vom 15.Januar dieses Jahres vor. Der Original- Bericht datiert vom 25.8.92, also einen Tag nach der schwersten Krawallnacht vor der ZASt. Im Original schreibt Skrocki, er habe Deckert sogar „4x“ gebeten, seinen beiden bedrängten Polizeizügen zu Hilfe eilen zu dürfen. Deckert lehnte mit dem Hinweis auf ein „Abkommen mit den Störern“ ab. Skrocki rückte daraufhin gegen Deckerts Befehl mit seinen Leuten aus und traf deshalb als erster an der brennenden ZASt ein. Als kurz danach endlich Polizeieinheiten mit fast einstündiger Verspätung über Funk zum Brandort kommandiert wurden, notierte Skrocki, „Wir sind bereits vor Ort!“

Die widersprüchliche Zeitangabe in Skrockis Bericht konnte inzwischen geklärt werden. Unabhängig voneinander erklärten Skrocki und sein Zugführer Jürgen Fisch gegenüber der taz, daß sich zum Zeitpunkt ihres Ausrückens alle etwa 400 Polizisten vor der Polizeiinspektion Lütten Klein noch in Wartestellung befanden, und ein eventueller (Wieder)-Einsatz der Wenn-Karamnow-Hundertschaft noch nicht stattgefunden hatte. Damit ist klar, daß Skrocki, wie er selbst einräumt, sich in seinem Protokoll um rund 15 Minuten geirrt hat.

Wo aber war Skrockis Bericht fünf Monate lang? Warum ist er dem Ausschuß erst vor gut einer Woche zugegangen? Nach Angaben von Landespolizeidirektor Hans-Heinrich Heinsen befand sich der Bericht in der Schreibtischschublade von Skrockis Chef, Hinrich Alpen, dem Leiter der Polizeiinspektion Mitte in Schwerin. Heinsen selbst gibt sich uninteressiert an der Aufklärung des katastrophalen Polizeieinsatzes.

Als er von seinem Hundertschaftsführer Wenn-Karamnow von den „Verhandlungen mit den Störern“ hörte, war für ihn „der Fall klar“. Auf die Idee, den zweiten Hundertschaftsführer aus Schwerin, eben Waldemar Skrocki zu fragen, was der in Rostock erlebt habe, will Heinsen nicht gekommen sein. Und auch Skrockis Chef ließ das Protokoll fünf Monate lang schmoren, weil es ihm nicht neu erschien und ihn niemand danach fragte.

In der gestrigen Sitzung des Untersuchungsausschusses wurde außerdem deutlich, wieso die weitaus meisten Verfahren gegen die Gewalttäter von Rostock eingestellt werden mußten. In den ersten drei Krawallnächten habe es, so bestätigte außer Neumann auch der Staatsanwalt Michael Gottschalk aus Rostock, kaum „qualifizierte Festnahmen“ gegeben. In den meisten Berichten hätten bestenfalls die Namen der Festgenommenen gestanden, nicht aber, wo, wann und warum sie festgesetzt worden waren.