Wo der Rechtsstaat kapituliert

■ Ingo Müller, Autor von "Furchtbare Juristen": Die Westjustiz muß ihre Legitimität, über SED-Täter zu richten, erst beweisen / Plädoyer für strenge Rechtsstaatlichkeit

Tiergarten. Diejenigen, die rot mit braun gleichsetzen, behandeln Nazi-Täter weit besser als kommunistische. Das war eine der zentralen Thesen des Bremer Juristen Ingo Müller bei einer Diskussionsveranstaltung der „Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen“ vorgestern abend in der „Pumpe“. Müller, der sich mit seinem Buch „Furchtbare Juristen“ als Kenner der NS-Justiz einen Namen gemacht hat, bewies seine These mit gruseligen Beispielen.

Sein erstes: Sehr viel schneller als im Falle Honecker habe 1974 eine Große Strafkammer in Hamburg entschieden, das Verfahren gegen den NS-Verbrecher Bruno Streckenbach wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde einzustellen. Grund: Der damals 72jährige Ex-Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt, der als Schreibtischtäter für mindestens eine Million Morde verantwortlich gemacht wurde, hatte Bluthochdruck. Zweites Beispiel: Weil nach Ansicht der westdeutschen Gerichte NS-Richter im Glauben gehandelt hätten, sie hätten den Gesetzen folgen müssen, wurde nie ein einziger dieser Blutrichter verurteilt. Diese Rechtsauffassung habe sich 1960 schlagartig geändert, als der Bundesgerichtshof entschied, man müsse von einem Volljuristen erwarten können, daß er erkenne, wann Recht zu Unrecht wird. Da aber war es um einen DDR-Richter gegangen, der Zeugen Jehovas verurteilt hatte. Drittes Beispiel: Ein Oberstaatsanwalt habe sieben Jahre benötigt, um von 67 ehemaligen Richtern des Volksgerichtshofes ganze zwei zu vernehmen und sodann beide Verfahren einzustellen. Derselbe Mann habe später auf die Frage geantwortet, warum er für die Anklageerstellung im Falle Honecker nur ein Jahr gebraucht habe: „Der Zeitgeist war damals ein anderer.“

In all diesen Fällen, meinte Müller, habe sich „abweichend vom Gesetz“ der politische Wille durchgesetzt, rote und braune Täter völlig unterschiedlich zu behandeln. Wenn man das nicht wolle, müsse man sich, wie auch er persönlich, zum „Rechtspositivismus“ bekennen. Dieser erlaubt eine Bestrafung ausschließlich nach den bestehenden Gesetzen und läßt Rekurse auf höhere Gesetze wie das Naturrecht oder anderes nicht zu, wie früher in den Nürnberger Prozessen und zuletzt bei den Mauerschützenprozessen geschehen. „Ich möchte keinem Richter ausgeliefert sein, der glaubt, das wahre Recht bestimme sich durch das gesunde Volksempfinden“, spielte der Buchautor auf ein ähnliches Tun der Nazi-Richter an. Diese seien „mutig immer wieder über den Wortlaut der Gesetze hinausgesprungen“. Hätten sie sie angewendet, spitzte Müller seine Position geradezu gefährlich zu, „wäre es besser gewesen. Das schlechteste Gesetz ist immer noch besser als gar keines.“ Also lieber die Nürnberger Rassengesetze?

In diesem Kontext war es nicht weiter verwunderlich, daß Ingo Müller die strikt rechtsstaatliche Behandlung der SED-Täter durch die westdeutsche Justiz einklagte. Wenn Honecker und seinen Mitregenten, denen dem rechtspositivistischen Prinzip folgend der Prozeß nach DDR-Recht gemacht werden muß, kein klarer Verstoß gegen dasselbe nachgewiesen werden könne, dann müsse man das halt hinnehmen. „Ich finde es keine Schande“, so Müller, „wenn der Rechtsstaat aus rechtlichen Gründen kapitulieren muß.“ Umgekehrt aber sei es bedenklich, wenn die Justiz „mit Schaum vor dem Mund“ agiere.

Nicht alle ZuhörerInnen mochten diese Schlußfolgerungen teilen. Er sehe diesen Schaum nicht, wandte einer im Publikum ein, „es stehen doch eben nicht 10.000 SED-Kader vor dem Kadi“. Und es sei doch nur positiv, wenn ein Richter die bestehenden Gesetze hinterfrage und an höheren Maßstäben messe, meinte er anderer. Etwa an den ewigen Sittengesetzen? Die könnten sich ganz schnell ändern, warnte ein dritter. Am Ende war man sich einig, daß man sich uneinig war. Es gibt keinen Königsweg zur Gerechtigkeit. Ute Scheub