Geistwesen als letzter Schrei

■ Neue Trends auf dem Markt der Weltanschauungen: "Channeling" und Spiritismus / Interview mit dem Sektenbeauftragten der Evangelischen Kirche

Berlin. New Age, Esoterik und Psychogruppen liegen immer mehr im Trend. Über die Entwicklung auf dem für Laien unübersichtlichen Weltanschauungsmarkt unterhielt sich die taz mit Thomas Gandow, dem Sektenbeauftragten der Evangelischen Kirche in Berlin- Brandenburg. Der ordinierte Theologe beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Phänomen.

taz: Drei Jahre nach dem Mauerfall: Haben sich Ihre Befürchtungen über die Verbreitung von zweifelhaften weltanschaulichen Gruppen in Ostdeutschland bestätigt?

Gandow: Wir haben nicht befürchtet, sondern beobachtet, daß die Gruppen sich mit Mann und Maus und dem letzten Fetzen Papier auf die Ostler gestürzt haben. Die Scientologen haben allein im ersten Halbjahr mindestens 60.000 Kontaktadressen erhalten. Und hier ist dann nachgearbeitet worden. Mich interessiert heute weniger deren Erfolgsquote, die nach eigenen Angaben bei etwa vier Prozent der Buchkäufer liegt, sondern mehr der politische und wirtschaftliche Einfluß, den sie haben. Es ist doch bedenklich, wenn nur mit politischen Interventionen der Verkauf von Stahlwerken an Scientologen verhindert werden kann, so wie jetzt in Riesa oder Hohenschönhausen. Mich interessieren nicht die Quantitäten, sondern die Qualitäten, und da haben sich meine Voraussagen und Warnungen nicht nur bestätigt, sondern sie sind leider übertroffen worden.

Mit welchen Methoden arbeiten die Gruppen im Osten?

Die relevanten Gruppen wie Mun oder Scientology haben sehr früh begonnen, Ostkader zu qualifizieren, entweder in den USA oder auch in Westdeutschland. Sie haben es geschafft, mit Tausenden von Wissenschaftlern und Studenten zusammenzuarbeiten.

Wie erklären Sie sich den Erfolg?

Diese Gruppen bieten eine wissenschaftliche Weltanschauung an. „Wissenschaftliche Weltanschauung“ heißt in dem Zusammenhang: eine totale Erklärung der Wirklichkeit, die sich als Wissenschaft ausgibt. Gruppen wie Scientology und Transzendentale Meditation bieten solche Weltanschauungen an, die insbesondere im Osten als Ersatz für das Bisherige genommen werden.

Welche Funktion hat Berlin bei den Aktivitäten dieser Gruppen?

Es gibt Hinweise, daß Berlin die Schaltstelle zwischen Ost und West wird.

Alle Gruppen versuchen, hier ihre Deutschlandzentrale aufzumachen. Die Mun-Bewegung soll ihr Hauptquartier nach Berlin verlegt haben. Bei Scientology ist es so, daß die Organisationen in Konkurrenz untereinander stehen, und natürlich versucht die Berliner Organisation, bedeutender zu werden als die in Hamburg.

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen den rassistischen Ausschreitungen im letzten Herbst und den Gruppen, die nationalsozialistische Inhalte mit kultischen Praktiken verbinden?

Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß Rassismus und Nationalsozialismus hauptsächlich durch religiös-weltanschauliche Gruppierungen aufbewahrt und transportiert wurden und habe dabei besonders auf die in Berlin aktiven Gruppen hingewiesen. Dazu gehört auch die Kampfgruppe Priem/„Söhne der Asen“. Inzwischen hat Priem eine Organisation, die tatsächlich an die Jugendlichen in den neuen Bundesländern herankommt. Auf der einen Seite haben wir es mit orientierungslosen Jugendlichen zu tun, die nach Führung, Heimat, Orientierung suchen, auf der anderen Seite mit rechtsradikalen, zum Teil offen nationalsozialistischen Führern, die in kultartigen Gruppen überwintert haben.

Was für eine Bedeutung messen Sie den sogenannten Psychosekten bei, etwa dem Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis (VPM)?

Sicher ist der VPM an der Freien Universität ein großes Problem. Bei den Fachschaftswahlen wird sich herausstellen, wie das quantifizierbar ist. In diesem Zusammenhang sehe ich auch das Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung, das aus einer Psychogruppe „Sex-Peace“ hervorgegangen ist und in Belzig südlich von Berlin von der Treuhand ein Gelände gekauft hat. Die Werbeaktivitäten der Gruppe richten sich im Moment hauptsächlich auf die Westberliner Szene, weniger auf die Leute im Umland. Alle diese Gruppen sind auf dem Vormarsch, weil sie Zugehörigkeit versprechen und weil sie das komplizierte Zusammenleben durch ihre straffe, autoritäre Struktur organisieren.

Gibt es aktuelle Trends auf dem Weltanschauungsmarkt?

Im Moment haben die esoterischen Gruppen besonderen Zulauf. Besonders beliebt sind die Gruppen, die „Channeling“ betreiben.

Was ist „Channeling“?

Jemand wird zum „Kanal“, also zum Medium für Botschaften aus einer anderen Wirklichkeit. Im Gegensatz zum herkömmlichen Spiritismus, wo die Medien nur die Geister von Toten vermitteln und zum Sprechen bringen, handelt es sich beim „Channeling“ um Spiritismus mit lebenden Geistwesen. Das kann das eigene „höhere Selbst“ sein, Raumfahrtkommandant Ashtar, der Geist Lazaris, ein Delphin, vielleicht sogar meine Katze.

Welche Gruppierungen betreiben das im Moment?

Das wird in sehr vielen esoterischen Gruppen betrieben und läuft hauptsächlich auch über den Buchhandel, ist also ein kommerzielles Phänomen. Ab und zu finden Kongresse statt, wo solch ein Medium, also gewissermaßen der „Oberchanneler“, auftritt und „channelt“ oder es anderen beibringt. Letztes Jahr hatten solche Gruppen einen Kongreß in der UFA- Fabrik, und es ist so, daß Teile der sogenannten Szene ausgesprochen aufgeschlossen dafür sind. Aber auch im Umfeld bekannter Gruppierungen, zum Beispiel bei Bhagwan oder Mun, gibt es „channeling“-artige Praktiken.

Welche Kriterien gibt es für Sie, Gruppen für schädlich zu halten und die Öffentlichkeit vor ihnen zu warnen?

Ich werde immer da um Rat gefragt, wo es ein Informationsdefizit gibt, das meistens durch die Gruppen selbst verursacht wird. Bei dubiosen Gruppen fängt es schon damit an, daß man nicht mal als Mitglied die Satzung des Vereins haben kann. Der nächste Punkt ist, daß es Gruppen gibt, die in ihrem Verhalten oder durch ihre Unterlagen klarmachen, daß sie die offene Gesellschaft und die offene Diskussion abschaffen wollen, die also totalitäre Ansprüche haben.

Das Interview führte

Anne-Kathrin Koppetsch