Bericht aus der Vorhölle

■ Ein ehemals begeisterter Erbauer des Kommunismus zur Geschichte des Atomtestgeländes Semipalatinsk

Die Stadt ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Ihr Bahnhof heißt Endstation. Schwerbewaffnete Soldaten kriechen unter die Wagen, suchen nach illegalen Passagieren. Wer hier ankommt, muß sich schriftlich zu fünfjährigem Schweigen verpflichten.

Igor Trutanow erreichte die geheime Stadt, die abwechselnd Semipalatinsk-21, Moskau-400, Kurtschatow und Bereg genannt wurde und etwa 170 Kilometer flußaufwärts vom eigentlichen Semipalatinsk liegt, im Juni 1977. „Natürlich war ich sehr aufgeregt, denn bald sollte mein selbständiges Leben beginnen, und zwar nicht in irgendeiner langweiligen Fabrik oder in einem Kolchos, sondern auf dem geheimen, ja, ja auf dem supergeheimen Testgelände – in der Großen Schmiede des Atomschildes unseres sowjetischen Vaterlandes. Das war toll und berauschend für mich, einen siebzehnjährigen Burschen!“

Wochentags lebten die Arbeiter in Wohnheimen in der weiten kasachischen Steppe, „Zone“ genannt. Sie warteten die Instrumente, bohrten bis zu 800 Meter tiefe Tunnel in den marmordurchsetzten Boden und freuten sich auf die nächste Zündung eines „Produkts“, wie die Atomsprengkörper in der verklausulierten Sprache der Militärs genannt wurden. Jede Explosion feierten sie wie einen Fußballsieg. Nicht nur die Überzeugung, daß das sowjetische Atomprogramm zur Abwehr des amerikanischen Imperialismus notwendig sei, war den BewohnerInnen von Semipalatinsk-21 selbstverständlich. Ebenso fraglos verehrten die jungen Leute die Idole aus dem Land der Klassenfeinde. Sie hörten Beatles und Rolling Stones, und Trutanows größter Schatz war eine amerikanische Plastiktüte mit Marlboro-Aufdruck. „Wir hatten damals keine Fragen... Wir waren stolz auf unsere Arbeit.“

„Inzwischen ist die Frist für mein Schweigegebot abgelaufen“, schreibt Igor Trutanow im Vorwort zu „Die Hölle von Semipalatinsk“. Er spüre die Pflicht zu berichten, was er damals in Kasachstan erlebte, zu beschreiben, was an Zerstörungspotential auch durch seine Arbeit entstehen konnte. Trutanow versucht, die Geschichte der Nuklearwaffentests aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Er hat viele Beteiligte besucht und schreibt ihre Erinnerungen auf. Das erste Kapitel widmet er den zivilen Opfern in der Umgebung des Testgeländes. Die Menschen wurden nicht nur in völliger Unklarheit darüber gelassen, was in dem abgesperrten Gebiet vor sich ging – einige vermuteten, dort solle eine kommunistische Mustergesellschaft ausprobiert werden. 40 Menschen wurden sogar absichtlich nicht evakuiert, um an ihnen die Folgen der Verstrahlung medizinisch untersuchen zu können. Und auch sie wurden zu absolutem Stillschweigen verurteilt. Obwohl viele Verwandte und Freunde starben, obwohl viele Menschen in der Gegend schwerkrank oder verkrüppelt sind, möchten die meisten AnwohnerInnen des inzwischen infolge massiven öffentlichen Protestes geschlossenen Testgeländes ihre Heimat nicht verlassen. Sie wollen sterben, wo sie aufwuchsen.

Auch die beteiligten Militärs sind gesundheitlich schwer gezeichnet, auch sie wurden nicht darüber aufgeklärt, welche Folgen der Flug durch die nukleare Wolke für sie selbst haben würde. Man machte ihnen vor, mit einer guten Ration Wodka könnten sie sich vor der radioaktiven Verseuchung schützen. „Es bleibt mir nur noch übrig, im stillen zu sterben. Gott ist mein Trost“, sagt ein alter Offizier, der in seinem Zimmer neben einer Ikone auch ein Stalinbild aufgehängt hat.

Immer dann, wenn Trutanow seine eigenen Beobachtungen und Erinnerungen aufschreibt oder die Beteiligten selbst sprechen läßt, ist das Buch packend – Geschichte von unten. Der Autor hat die Fähigkeit, Widersprüche bei sich selbst und anderen aufzuzeigen, ohne sie auflösen zu wollen.

Zäher und zum Teil inhaltlich nicht auf der Höhe des wissenschaftlichen Forschungsstandes ist das Kapitel über die weltweite Entwicklung von Atombomben seit Anfang der 40er Jahre. Interessant sind hier ausschließlich die Teile über die Sowjetunion selbst. Stalin hatte L.P. Berija, den Chef des Gulag, mit der Leitung des Atombombenprojekts beauftragt. Mit großer Ungeduld verfolgte er den Fortgang der Forschung und der Plutoniumgewinnung. Am 29. August 1949 wurde die erste sowjetische Nuklearbombe getestet.

Obwohl die Sowjetunion nie eine Atombombe als Kriegsgerät einsetzte, kosteten auch die sowjetischen Nuklearwaffen unzähligen Menschen das Leben: Lagerhäftlinge, die in den Uranerzgruben schwer arbeiteten und an Unterernährung und Verstrahlung starben, gehören ebenso dazu wie die AnwohnerInnen und ArbeiterInnen vom Testgelände in Semipalatinsk und der arktischen Insel Nowaja Semlja, wo bis heute gezündelt wird. Annette Jensen

Igor Trutanow „Die Hölle von Semipalatinsk“, Aufbau-Verlag 1992