Das schnelle Leben der Crash-Kids

■ Sie sind die berühmtesten Autoknacker der Republik, sie fordern die Polizei heraus. Unterwegs mit den Jugendlichen vom Hauptbahnhof

, sie fordern die Polizei heraus. Unterwegs mit den Jugendlichen vom Hauptbahnhof.

„Hast du das gehört?“ „Klar“, sagt Andy*, „klar habe ich das gehört.“ „Ich schau‘ mal nach“, sagt Stefan. Vielleicht war es nur der Wind, der im Laub raschelte. Möglich wäre aber auch, daß sich ein Zivibulle im Gebüsch verbirgt, der die Waffe zieht, kaum daß der Wagen offen ist, und Stefan und Andy landen mal wieder in der Zelle. „Alles klar“, sagt Stefan und kommt wieder aus dem Gebüsch. „Nur ein Igel“.

Wenige Minuten später ist in der Pinneberger Siedlerstraße das erste Auto aufgebrochen. Stefan und Andy, beide 18 Jahre alt, sehen sich noch ein wenig um, und Andy entdeckt eine paar Straßen weiter einen GTI 16 V. Seinen Lieblingswagen. Wieder die gleiche Prozedur: ein paar kurze und nervöse Bewegungen mit dem Schraubenzieher, der in das Schloß gestochen wird, und der Knopf springt hoch. Das Lenkradschloß wird gebrochen, der Benzinstand kontrolliert, das Zündkabel aus der Verschalung gerissen und der Wagen kurzgeschlossen.

Gemächlich nehmen die beiden Autos Kurs auf die Autobahn 7 in Richtung Flensburg. Noch rast keiner. Erst wird die Fahrtroute für die Nacht durchgesprochen. „Wollen wir nach Meldorf?“ schreit Stefan durchs geöffnete Fenster. „Okay“, brüllt Andy zurück, „nach Meldorf!“ Es geht los.

150 Kilometer geradeaus, 150 Kilometer Gasgeben auf der Autobahn nachts um halb drei. Die Wagen starten durch , tanzen umeinander herum. Der GTI zieht vorbei. Musik dröhnt aus den Boxen. Andy drückt einen Mercedes auf die rechte Spur. „Du fährst mit dem GTI“, sagt er, „und du bekommst Angst, daß der Wagen aus der Kontrolle gerät. Aber du brichst nicht ab. Du drückst den GTI von 230 auf 240 rauf. Maximale Power. Eine falsche Bewegung mit dem Lenkrad, nur einen Millimeter, und du fliegst raus. Dann bist du tot, absolut tot.“

Der Bahnhof als Jugendzentrum

Nach einer halben Stunde Fahrt mit 240 km/h ist der Tank des GTI leer. Andy fährt rechts ran, wischt die Scheiben, die Kupplung, den Seitenspiegel ab und läßt den Wagen stehen. Bloß keine Fingerabdrücke hinterlassen. Manchmal fahren sie ihre Autos auch einfach zu Schrott, spielen Rammen oder stecken eine Lappen in den Tank, der dann angezündet wird. Die beiden fahren mit einem Auto weiter und wissen schließlich nicht mehr wohin, denn für den richtigen Hochgeschwindigkeitsspaß fehlt eben der zweite Wagen.

Kein Parkplatz weit und breit, und die Klamotten sind durchgeschwitzt, die Augen brennen vor Müdigkeit. Weil Andy und Stefan gegenwärtig keine Wohnung haben, beschließen sie, einen Einbruch zu versuchen. Andys Eltern sind in Ferien am Ammersee, und die Bude ist frei. Nichts wie hin.

Gegen fünf Uhr morgens klettern sie über den Balkon im Erdgeschoß, brechen mit dem Schraubenzieher die Tür auf, schlafen ein wenig, glotzen Video, machen ein paar Tüten Chips auf und werden schließlich am späten Nachmittag von den Nachbarn und der Polizei aus der Wohnung verjagt.

Es geht zurück zum Hauptbahnhof, ins Herz der Szene. Hier treffen sie die anderen. Sabine und Michael sind schon da und stehen an der Treppe, die zur U-Bahn 2 hinunterführt. Der 17jährige Michael, der schon 300 Autos geklaut haben soll, ist zwei Tage zuvor aus dem Knast entlassen worden, wo er sieben Monate eingesessen hatte. Sabine, 16, ist seine Freundin, sie fährt nicht selbst, ist aber immer dabei. Der 14jährige Ronny hat sich gerade bei McDonald's das dritte Karamel-Eis geholt, er will heute

1abend noch mit einem geklauten Wagen nach Berlin. Der Junge hat Streß mit irgendeinem Betreuer, deshalb muß er jetzt ganz schnell raus und losbrausen, um wieder auf andere Gedanken zu kommen. Jörg, 16, genannt Fuckfinger, wird von Polizisten von der Rolltreppe verscheucht. Der 17jährige Martin ist gerade zu seinem Dealer gegangen und kauft sich ein Stück Haschisch, und Tina, mit 22 Jahren die Älteste der Gruppe, geht ihrer Lieblingsbeschäftigung nach, flirtet mit irgendwem. „Typen aufreißen und Autosknacken mit den anderen“, das sei, womit sie sich den Tag über beschäftige. Sie selbst klaue nur Automatik, da sie das Schalten nicht beherrsche.

Die Medien zahlen für Interviews

Tina und Martin, Andy und Stefan, Jörg, Sabine und Michael gehören zu der Gruppe von jugendlichen Autodieben, die sich Nacht für Nacht aufmachen, um möglichst viele Wagen zu klauen und ihre Fahrkünste in Verfolgungsjagden mit der Polizei zu messen. Seit knapp zwei Jahren sind sie unterwegs, rasen in wechselnder Besetzung mit Spitzengeschwindigkeiten durch die Stadt. Gerade die Jüngeren unter ihnen gefährden häufig sich und andere. Mal wird ein Polizist von einem Auto mitgerissen, mal eine Passantin angefahren. Im Herbst vergangenen Jahres fuhr Dennis, gerade mal 13 Jahre alt, einen geklauten Opel-Kadett zu Schrott, sein Freund Sven wurde bei diesem Unfall getötet.

Der Alltag der „Crash-Kids“: Sie schlendern durch die Einkaufsstraßen, um Klamotten zu klauen, fahren im Neugrabener Moor ihre ganz private Rallye-Strecke. Dort verfolgt sie die Polizei meistens nicht mehr, denn die Peterwagen sind zu schwer und bleiben erfahrungsgemäß im Sand stecken. Oder sie ziehen ans Alsterufer vor dem Hotel Atlantic. Andy packt sein Messer aus und Stefan seine Sprühdose mit Reizgas. Wenn ein Spaziergänger vobeikommt, der nach Geld aussieht, greifen sie an. „Du Wichser“, ruft Andy dann, „Geld her oder ich stech' dich ab!“

Häufig auch läßt sich die Gruppe, die sich selbst „Autoknak-

1ker Hamburg“ nennt, von Medienleuten interviewen, meist gegen Geld. So bot eine Fernsehredakteurin ein paar besonders jungen und deswegen besonders sensationsfähigen Autodieben einen Exklusivvertrag über 10000 Mark. Die Sache flog auf, der Vertrag platzte, der Fernsehsender distanzierte sich.

Doch nach wie vor fließt Geld, das die Autoknacker auch als Anerkennung für besondere Leistungen verstehen. Demnächst soll in einer Hamburger Illustrierten eine Geschichte über zwei ausgestiegene Crash-Kids zu lesen sein, die im Oktober letzten Jahres Eltern geworden sind. Das Blatt soll sich für 5000 Mark die Rechte für die Fotos gesichert haben, wird in der Branche berichtet.

Die Geschichten von den wildgewordenen Rasern, die sich und andere bedenkenlos in den Tod befördern, verkaufen sich gut. Sie verdecken aber meist die Odyssee der Kids, die in Elternhaus und Schule beginnt, in Heimen und Jugendgefängnissen fortgesetzt wird und ein katastrophales Ende verspricht. In keinem anderen Milieu — nicht bei den Junkies, den Obdachlosen oder den Spielsüchtigen — findet sich eine so frappierende Gleichartigkeit der Biographien. „Fast alle Crash-Kids“, so der Hamburger Uni-Pädagoge Peter Struck, „sind in Familien hineingeboren worden, die meist schon vor der Geburt kaputt waren.“ Kaum einer der Jugendlichen wird mit der Schule fertig.

„Komplett kriminell und komplett selber schuld“

Da ist Jörg, der vor einem Jahr von zu Hause ausgebrochen ist und heute in einer alten Fabrikhalle lebt. Ohne Decke, nur mit einer Plastikplane bedeckt, schläft er auf einer verpißten Schaumgummimatratze, die ein Junkie mitbenutzt. Sein Vater: ein Bahnbeamter in Kiel. Der Alkoholiker erzog den Jungen allabendlich mit dem Nietengürtel. Da ist Stefan, der zwischen den geschiedenen Eltern in ein Loch gefallen ist. Sein Vater, ein Fernfahrer, hat sich irgendwann ohne Angabe einer Adresse Richtung Frankreich abgesetzt. Mit neun Jahren kam Stefan das erste Mal in ein Heim, mit zwölf lernte

1er das Autofahren. Im vergangenen Jahr wurde er viermal mit einem gestohlenen Wagen erwischt.

Und da ist das Adoptivkind Andy, das von einem Heim ins andere übersiedelte, von der Schule flog und wieder ins Heim kam. Heute ist Andy obdachlos; seine Eltern wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. Seit eineinhalb Jahren streunt er am Hauptbahnhof herum, rastlos, immer auf der Flucht. „Keine Lust, dir das ganze Auf und Ab zu erzählen“, sagt er dem Reporter, „laß meine Lebensgeschichte mal raus. In den Zeitungen stellt man uns immer als kleine Gescheiterte da, die vieles mit ein bißchen Glück hätten erreichen können. In Wirklichkeit sind wir komplett kriminell und komplett selber schuld.“

Rallye auf dem Dom und auf der Autobahn

Es ist acht Uhr am Abend, die Kids sind am Bahnhof versammelt. Die Dealer und Junkies haben sich unter das Glasdach verzogen. Vor dem Blumenstand steht jemand und pißt in hohem Bogen gegen die Mauer. Jörg beugt sich über die Schulter des Mannes. „Oh“, sagt

1er, „der muß aber noch ordentlich wachsen.“ Alle kreischen und rennen hinunter zur U-Bahn, die nach St. Pauli fährt.

Auf zum Dom! Während der Fahrt wird der erste Joint geraucht, und dann ziehen sie durch die lichterflirrende Kulisse des Jahrmarkts, geben das geklaute Geld oder die Sozialhilfe aus. Andy gewinnt am Schießstand ein paar Flaschen Sekt, die am Ort geköpft werden. Sabine kauft sich einen Armvoll Süßigkeiten und Lebkuchenherzen. Der Autoscooter zieht die Gruppe an. Krachend hämmert die Musik, ganz legal können sie hier ihre Rallye fahren, bis um Punkt elf Uhr die Musik verstummt und der Strom abgestellt wird. Michael ist todmüde und will eigentlich nach Hause, aber kommt dann doch noch mit. Andy trinkt die letzte Flasche Sekt. „Komm endlich“, sagt Jörg, „wir brauchen Autos.“

Die Grabenstraße, die sich von St. Pauli in Richtung Innenstadt zieht, liegt im Dunkeln. Stefan knackt probeweise die Tür eines Pkw. Jedes Geräusch macht die Gruppe noch ein wenig nervöser, hektischer. „Komm fahr mit“, sagt Sabine und grinst mich an. „Die werden uns schon nicht ficken.“

1Vier Autos werden in dieser Nacht geklaut. Zuerst zwei GTI, später noch ein Audi und ein Opel. Wieder rasen die Kids ziellos über die Autobahn, immer auf der linken Spur, und scheuchen den Rest der Welt mit der Lichthupe ins Abseits. Kurz nach vier stoppt Stefan an einer Tankstelle, um zu fragen, wo sie gelandet sind. „Da hinten liegt Bremen“, sagt der Tankwart und zeigt in die Dunkelheit, „und von hier aus sind es noch genau 106 Kilometer bis zur holländischen Grenze.“ Aber nach Holland will keiner, und so fragt Stefan, wo es in den Harz geht. Andy hat ihm gesagt, dort gebe es viele Touristen, die Geld haben.

Dann donnern sie wieder stundenlang über den Asphalt, schlafen an einer Raststätte bei Hannover und kriechen gegen elf Uhr am Morgen wieder aus dem Auto. Nix Harz. Es geht zurück nach Hamburg. Und dort? „Erstmal richtig ausschlafen“, sagt Andy. Er läßt seinen Wagen schließlich am S-Bahnhof Holstenstraße stehen. Keiner aus der Gruppe ist am Abend am Hauptbahnhof zu sehen.

Jörg hat sich schon früher als sonst in sein Abbruchhaus verkrochen. Auf dem Weg dorthin klaut er sich noch ein Telefonbuch und macht auf dem Betonboden ein kleines Feuer. Stefan und Andy sind zu einem Freund gefahren, der in einer Wohnung des Jugendamtes lebt. Hier übernachten sie. Sabine fährt zu ihrer Mutter, Michael in seine Wohnung. Er wird am nächsten Tag alleine in einem geklauten Auto verhaftet und landet wieder im Knast. Martin verschwindet gleich wieder auf den Dom. Zum Scooterfahren.

Nur Tina, die in der vergangenen Nacht nicht dabei war, geht nochmal zu McDonald's am Hauptbahnhof. Frische Schnittwunden, die sich entzündet haben, ziehen sich über ihren Arm. Sie will nicht darüber reden, was da passiert ist. Demonstrativ stellt sie sich auf die Rolltreppe. „Hey Reporter“, sagt sie und starrt mit ihren geweiteten Pupillen direkt an mir vorbei, „wir machen nun mal Scheiße. Wir sind anormal. Autofahren ist sowas wie unsere Droge. Ehrlich, das Leben ist geil.“ Bernhard Pörksen

* Namen der Autoknacker von der Redaktion geändert