Wenige Meter bis zur Wirklichkeit

■ Blick hinter die Gardinen: Die Langzeitdokumentation „Berlin Ecke Bundesplatz“, ARD, 15.30 Uhr

Was ist der Traum eines Dokumentarfilmers? „Eine Langzeitstudie“, antwortet der Filmemacher Detlef Gumm. Um diesen Traum zu verwirklichen, mußten er und sein Kollege Hans-Georg Ullrich nicht in die Ferne ziehen, die Objekte ihres Interesses fanden sie ganz in der Nähe ihres Büros am Berliner Bundesplatz. Sie planen, Menschen aus ihrer Nachbarschaft mit der Kamera bis ins Jahr 2000 zu begleiten.

Stilprinzip ist der Blick hinter Nachbars Gardine, freundlich, aber distanziert, neugierig, aber unaufdringlich. Vor sieben Jahren begannen Gumm und Ullrich mit ihrer Langzeitdokumentation „Berlin Ecke Bundesplatz“. In Zeitabständen von jeweils mehreren Monaten filmten sie Szenen aus dem Leben der Leute aus dem Kiez und ließen sie über sich selbst Auskunft geben. 1988 sind mit großem Erfolg die ersten Teile im WDR gesendet worden. Von heute an werden zwölf weitere 30-Minuten-Folgen in der ARD gezeigt, von Wohnzimmer zu Wohnzimmer sozusagen.

„Im Dokumentarfilm Geschichten erzählen“ wollen die Filmemacher. Wie etwa die aus dem Leben des Schriftstellers Reimar Lenz, der Unterricht im Dichten gibt. Er und seine Schüler, ein Herr Eden und die schüchterne Martina, lesen sich gegenseitig Selbstgedichtetes vor. Gemeinsam wird an den Werken gefeilt und die Frage diskutiert: „Kann man Intuition mit Intuition verbessern?“ Das Filmteam blickt auch der lebenslustigen Berta Tomaschewski an ihrem 90.Geburtstag über die Schulter und muß erleben, wie sie nach einem Schwächeanfall zum ersten Mal in ihrem Leben ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen muß. Den empfohlenen Herzschrittmacher lehnt sie ab. Das sei etwas für junge Leute: „Wie lange sollen denn die Alten noch leben?“

Mit jeder Folge ergänzen sich die Episoden zu deutlicheren Bildern, und siehe da: Nicht die Banalität des Alltags wird sichtbar, sondern seine Exotik. Hinter der vermeintlich langweiligen Normalität verstecken sich Minidramen mit manchmal grotesken Pointen, hinter unauffälligen Fassaden schrullige Typen, großes Glück und großes Unglück.

Die Mitwirkenden haben sich seinerzeit auf Briefwurfsendungen gemeldet. Nach den Gründen befragt, zeigen sie sich wenig auskunftsfreudig. „Warum nicht, ist doch eine gute Sache“, sagt beispielsweise Herr Rehbein. Dabei geht der Blick des Dokumentarfilms tief in die Intimsphäre, voyeuristischer als im Spielfilm, spielen doch hier wirkliche Menschen mit wirklichen Geschichten die Hauptrolle. Und auch die Mitwirkenden sind, genau genommen, exhibitionistischer als Schauspieler: Sie zeigen stolz oder anklagend ihr Zuhause, legen ihre Seele bloß, und das nicht wie in der Anonymität des Gesprächs mit einem Unbekannten im Zug.

In manchen Momenten wird das spürbar als peinliche Zeugenschaft von fremder Privatheit in Großaufnahme. Letztlich aber bleibt dennoch ein gutes Gefühl: „Berlin Ecke Bundesplatz“ nimmt seine Helden des Alltags ernst. Die Mitwirkenden haben sogar im Laufe der Jahre einen Blick für die Filmtauglichkeit einzelner Lebenssituationen entwickelt und machen die Filmemacher auf interessante Szenen aufmerksam: die Fernsehkamera als Tagebuch-Ersatz.

Die Filmer erheben sich nicht über ihre Figuren, rücken sich selbst nicht in den Mittelpunkt. Sie lassen die Menschen reden, ohne sie bloßstellen oder entlarven zu wollen. Auf dramaturgische Kontraste wollen sie dennoch nicht verzichten. Da erzählt Marina, die auch schon in den ersten Folgen dabei war, von ihrer Arbeitslosigkeit, ihrer Krankheit, ihrer Einsamkeit. In derselben Folge wird das heitere Familienidyll der Köpckes bebildert. Während eines Sommerurlaubs bauen sie am neugekauften Ferienhaus in Schweden, planschen im Waldsee und singen abends im Chor. Der harte Zusammenschnitt von Glück und Elend wirkt, als ob Elemente einer sozialkritischen Studie versehentlich in ein Urlaubsvideo geraten wären. Im Film scheinen Welten zwischen beiden zu liegen, in der Wirklichkeit sind es nur ein paar hundert Meter. Marion Löhndorf