■ Die Krise der Mitte ist das eigentliche Problem
: Die Herstellung des Politischen

Bonn ist nicht Weimar! So wird angesichts des aufkeimenden Rechtsradikalismus der Zustand unserer Republik von allen Seiten beschworen. Das ist wohl wahr. Heute setzt nicht wegen, sondern trotz der Bonner Politik eine erstaunlich breite Bürgerbewegung unübersehbare Dämme gegen rechte Gewalt, während sich die Demokratie von Weimar selbst aufgegeben hat.

Seit Jahren baut sich ein rechtsnationales Potential auf, das unsere Gesellschaft in nur wenigen Monaten gefährlich ins Rutschen gebracht hat. Die moralischen Verwüstungen der geistigen Brandstifter haben in Rostock und Mölln tiefe Spuren hinterlassen.

Und doch ist nicht der Rechtsradikalismus das eigentliche Problem für die Bewährungsprobe unserer Demokratie. Denn es zeigt sich immer deutlicher, daß die politische Mitte abgewirtschaftet hat, mit der Folge einer Selbstdemontage des politischen Systems. Die alten Antworten passen nicht mehr, sie sind immer weniger in der Lage, die Probleme unserer überkomplexen, störanfälligen und wieder gefährlichen ungleichen Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Das soziale Netz wird dünner, die wirtschaftliche Entwicklung schlägt von Wachstum, das vieles kaschiert hat, um in die Verdrängung der Schwachen, die ökologische Zerstörung breitet sich weiter aus.

Das eigentlich Beängstigende ist, daß diese Probleme eng miteinander verflochten sind. Ihre Lösung erfordert einschneidende Änderungen unserer so gewohnten Wirtschafts- und Lebensweisen. Aber gerade die Gefährdung ihres Bestandes ist der eigentliche Antrieb für die Entwicklung der Bundesrepublik nach rechts.

Der sozialstaatlich gezähmte Kapitalismus, der nach dem Zusammenbruch des Kommunismus heiliggesprochen wird, hat entscheidende Webfehler: Er ist, was im vereinten Deutschland zu neuer Fremdheit führt, eine Ordnung nur für die privilegierte Minderheit. Ihre Existenz ist auf die Zerstörung der Natur und die Niederhaltung Dritter angewiesen. In den vergangenen Jahren sind die sozialen Folgen begrenzt geblieben. Jetzt aber gerät die Wachstumsmaschine ins Stottern. Die Verringerung der Verteilungsmasse trifft den Wohlstandsbauch.

Es ist die Politik der Mitte, die in die Krise geraten ist. Anspruch und Wirklichkeit fallen weit auseinander. Die unverarbeiteten Folgen der deutschen Einheit, verstärkt durch das eklatante Versagen der Bonner Politik, haben schlagartig deutlich gemacht, wie dünn das Eis ist, auf dem unsere Gesellschaft steht. Die innere Befriedigung durch Wachstum, Wohlstand und die Zweiteroberung der Welt auf Kosten Dritter, bislang das Mittel politischer Stabilität, funktioniert nicht mehr. Die sozialen und ökologischen Folgen holen jetzt auch uns ein. Die Bindungskraft des politischen Systems nimmt ab und parallel dazu der gesellschaftliche Konsens.

Weimar ist auch gescheitert, weil es keine stabile Mitte gab. Die SPD war überfordert, zugleich die Rolle der Opposition und der Staatserhaltung einzunehmen. Jetzt, wo die fetten Jahre vorbei sind, gerät erstmals wieder die Mitte in den Strudel großer Umbrüche, und diese ist heute weder stabil noch politisch zuverlässig. Nun werden die fatalen Folgen der Zerstörung und Aufgabe des Politischen in den achtziger Jahren erst richtig deutlich. Die geistigen und kulturellen Folgen zeigen sich in der Krise des politischen Systems. Zugleich fehlt trotz der 68er Generation, die jetzt eigentlich die Verantwortung tragen müßte, eine starke Linke, die die Kraft zu Reformen und Veränderung hat.

Heute ist vor allem mehr Politik notwendig, denn für die Bewahrung von Demokratie und Stabilität müssen die Konstanten in der Gesellschaft verschoben und neu gestaltet werden. Doch die Rechte hat die Entpolitisierung der Gesellschaft gezielt vorangetrieben, und dabei sind Kompromißfähigkeit und Gemeinsinn erodiert, während die Linke die Entleerung des Politischen kampflos hingenommen hat. So ist alles beliebig und privat geworden.

Die Schönwettergeneration der 68er wirkt ratlos im Umgang mit den veränderten Realitäten. Sie hat die Wende unterschätzt und Kohl belächelt. Der Zusammenbruch des Ostens und der Fall der Berliner Mauer hat sie weitgehend sprachlos gemacht. Statt das politische Erbe der späten 60er und frühen 70er Jahre offensiv zu verteidigen, kritisiert sie aus vornehmer Distanz das Versagen der Politik. Dabei war gerade sie es, die das Feld geräumt hat.

Die Bundesregierung steht vor den Trümmern ihrer Wendepolitik. Sie versucht nun in einem Spagat zwischen Anbiederung nach rechts und politischer Einbindung der SPD in Formelkompromisse und Scheinlösungen für sich zu retten, was zu retten ist. Das neue Zauberwort heißt „Konsens“: die Angst der Mehrheit vor den Folgen der eigenen Politik. In kleinen Zirkeln soll die ganz große Koalition praktiziert werden, quasi das Bündnis für den untauglich gewordenen Status quo gegen das Notwendige, die Herstellung des Politischen zur Durchsetzung von Reformen.

Heute ist wieder einmal die wichtigste Herausforderung an die Sozialdemokratie gerichtet. Sie muß zugleich Opposition und Regierung sein. Sie muß die Mitte stabilisieren und zugleich den Weg für grundlegende Änderung öffnen. Ohne sie marschieren CDU/CSU/ FDP vielleicht noch schneller nach rechts und bringen unsere Gesellschaft endgültig aus dem Lot. Mit ihr läßt sich vielleicht Schlimmeres verhindern, aber um den Preis, auch Schlimmes mitzuverantworten, was wütend macht und die eigene Ohnmacht verstärkt.

In der konkreten Wirklichkeit neuer wirtschaftlicher Spannungen, sozialer Rivalitäten und eines überschäumenden Nationalchauvinismus kann sich die Linke der Frage nicht entziehen: Welche Rolle muß sie selbst zwischen oppositioneller Konfrontation und politischer Mitwirkung einnehmen, damit die Demokratie nicht gefährlich ins Trudeln gerät? Führt die Zusammenarbeit in ein erneutes Versagen, weil sie damit auch zum Kompromiß gezwungen wird? Oder treibt die forcierte Polarisierung die politische Mitte, die sich im Bundestag auf eine große Mehrheit stützen kann, noch schneller nach rechts?

Die Krise von Politik und Gesellschaft hat bislang der Linken keinen großen Zuwachs gebracht. Und auch die SPD verfügt nur über 33 Prozent im Bund. Demokratie und Reformen sind in unserer komplexen Gesellschaft aber nur möglich, wenn es eine stabile linke Mitte in der Politik gibt – so wie Anfang der 70er Jahre, der bisher einzigen Phase politischer Vernunft und Aufklärung. Wir müssen deshalb wieder anfangen und die geräumten Positionen zurückerobern. Die eigentliche Herausforderung aber ist die Durchsetzung neuer politischer Paradigmen für die soziale und ökologische Gestaltung der Zukunft. Auch Rock gegen Rechts kann Politik nicht ersetzen. Michael Müller

Umweltpolitischer Sprecher

der SPD-Bundestagsfraktion