Von einer Lösung der Wohnungsfrage kann keine Rede sein

■ Kommunen sind zur Unterbringung verpflichtet, zur Bereitstellung von Wohnungen nicht (Wohnungslose, Teil II)

Hält man sich an die Zahlen, die vom Senat auf eine Anfrage 'Der Grünen' mitgeteilt wurden, so gab es im Mai 1992, als die Baracke am Bahnhof noch stand, in der Stadt Bremen rd. 150 alleinstehende Wohnungslose, die auf Notunterkünfte oder Notübernachtungseinrichtungen angewiesen waren, davon in Hotels und Pensionen ca. 30 bis 40, in der Bahnhofsbaracke 80, in der Notaufnahme des Jakobushauses 26 Personen. Diese offiziellen Zahlen stellen selbstverständlich nur Mindestgrößen dar. Denn nach wie vor gibt es in Bremen Wohnungslose, die 'Platte machen' oder vorübergehend bei Freunden und Bekannten nächtigen. Auch dürfte die Zahl der alleinstehenden Wohnungslosen in Hotels und Pensionen um ein Mehrfaches höher sein. Berücksichtigt man dies, so ist wohl eher von 300 alleinstehenden Wohnungslosen als Untergrenze auszugehen. (Dazu kämen noch die 80 Bewohner und Bewohnerinnen der Übergangseinrichtung des Jakobushauses, die ja auch keine Dauerwohnung haben.)

Mindestens 500 obdachlos

Zählt man die drogenabhängigen Wohnungslosen, deren Zahl- angegeben ist 60- noch mehr unterschätzt sein dürfte, hinzu, kann von mindestens 500 Personen außerhalb von Wohnungen und Heimen in Hotels, Pensionen, Notunterkünften, Notübernachtungseinrichtungen oder ohne Unterkunft überhaupt ausgegangen werden.

Rechnet man noch diejenigen hinzu, die aus Übergangseinrichtungen und aus Heimen eine Wohnung suchen, so ergibt sich eine Größenordnung von 1.000 (ohne Aussiedler und Asylsuchende). Eine solche Größenordnung wird durch offizielle Schätzungen des Wohnungsbedarfs für 'Menschen in sozialen Problemlagen' gestützt. Sie entspricht auch eher dem Wert, den man erhält, wenn Hochrechnungsergebnisse für das Land Niedersachsen auf Bremen übertragen werden.) Die Verfasser der betreffenden Studie schätzen, daß in einer verdichteten Region Niedersachsens 23 alleinstehende Wohnungslose auf je 10.000 Einwohner kommen. Für die Stadt Bremen mit rd. 550.000 Einwohnern ergäbe dies 1.200- 1.300 Wohnungslose.)

Schlechte Adressen

Mit der Errichtung einer großen Übernachtungseinrichtung hat sich die administrative und diakonische Praxis gegenüber alleinstehenden Wohnungslosen geändert, liegt es doch im finanziellen Interesse der Sozialbehörde wie der Inneren Mission, die Einrichtung dauerhaft auszulasten. Die Sozialbehörde hat deswegen zum einen, unter Hinweis auf untragbare hygienische und sanitäre Verhältnisse, gleich nach Öffnung der Baracke damit begonnen, bestimmte Hotels und Pensionen für die Unterbringung von alleinstehenden Wohnungslosen zu sperren und die darin lebenden Personen 'umzusteuern'. Zum anderen scheint es üblich geworden zu sein, Wohnungslosen nur noch die Notübernachtungseinrichtung anzubieten.

Fürsorgepflicht

Die gravierendste Auswirkung liegt jedoch darin, daß die Sozialbehörde als Obdachlosenpolizeibehörde meint, mit der Unterbringung von Wohnungslosen in dieser Notübernachtung zugleich ihrer sozialhilferechtlichen Pflicht nachgekommen zu sein. Diese besteht darin, im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt auch für eine dauerhafte menschenwürdige Wohnung sorgen zu müssen. Eine derartige unzulässige Vermischung 'wohnungsfürsorgerischer Maßnahmen', wie es früher noch hieß, mit der ordnungsbehördlichen Verpflichtung zur Stellung einer notdürftigen Unterkunft liegt auch in einer verwaltungsgerichtlichen Begründung vor, mit der der Antrag von sechs Personen, für ihre bisherigen möblierten Zimmer weiterhin Sozialhilfemittel zu bekommen und nicht in die Baracke zu müssen, abgewiesen wurde. Es heißt darin: „Denn ihr sozialhilferechtlicher Anspruch auf Abwendung der Obdachlosigkeit [wirklich so!, d. V.] beinhaltet nicht den Anspruch auf Zurverfügungstellung einer ganz bestimmten Unterkunft. Der Anspruch geht lediglich dahin, die Antragsteller in einer zumutbaren Weise vor Obdachlosigkeit zu bewahren.“ (Beschluß vom 12.12.1991; Az.: 3 V 783/91)

Wohnen im Bunker

Das heißt, daß wie zu Zeiten der 'alten' Bunker, eine Massenübernachtungseinrichtung wieder für viele Wohnungslose zum Dauerwohnraum werden wird. Das

Penner

Mann mit Gesicht

Ein Zimmer zu ergattern, gelingt kaumFotos: Katja Heddinga

war schon in der Baracke der Fall. Einige Personen gingen von dort auch zu ihrer Arbeit. Ebenso ist es in der Containerunterkunft. Die Vermittlung selbst in möblierte Zimmer wird selten werden. Insbesondere der sogenannte 'harte Kern' wird davon ausgeschlossen sein. Wer dennoch ein eigenes Zimmer haben will, muß sich schon besonders qualifizieren und noch dazu das Glück haben, selbst ein preiswertes Zimmer und einsichtige Verwaltungspersonen zu finden. Daß die Glücksbedingungen häufig nicht zutreffen, zeigt sich daran, daß selbst Personen, denen behördlicherseits außer ihrer Wohnungslosigkeit wirklich nichts vorzuwerfen ist, als Dauerbewohner in der Notübernachtung landen- wie einst die Personen, die heute zum sogenannten 'harten Kern' gerechnet werden und wahrscheinlich genau so in die ehemaligen Bunker eingewiesen worden waren. Durch ihre derzeitige Praxis produziert die Sozialverwaltung den 'harten Kern' der nächsten zwanzig Jahre, um ihm dann wieder

die Wohnfähigkeit abzusprechen und die Person letzten Endes alt, heruntergekommen, zerstört im Isenbergheim oder Adelenstift zu verwahren.

Oder Wohnungslose müssen sich, wenn sie sich die Chance auf eine Wohnung verdienen wollen, bußfertig und anpassungsbereit ins Jakobushaus begeben, um nach mehrmonatigen resozialisierenden Bewährungsproben eventuell für 'betreutes Wohnen' und danach vielleicht als Mieter eines eigenen möblierten Zimmers in Betracht zu kommen.

Deswegen sind die alleinstehenden Wohnungslosen, die noch über ein möbliertes Zimmer verfügen, als Privilegierte zu betrachten. Es dürfte in der Stadt Bremen 50- 60 Häuser in privater Hand geben, die in Einzelzimmer aufgeteilt sind, die an alleinstehende Wohnungslose vermietet werden. Die Zahl der Zimmer je Haus ist unterschiedlich, es gibt solche mit 20 und solche mit 3 Zimmern, die meisten Häuser dürften zwischen 5- 10 Zimmer haben. Rechnet man im Durchschnitt 7 Zimmer pro Haus, so kommt man auf 300- 400 darin wohnende Personen.

Bei Sozialhilfe beziehenden Personen überweist das Sozialamt die Miete und gibt eine Garantieerklärung ab in Höhe einer Monatsmiete für die Dauer eines Jahres. Der Mietvertrag selber wird zwischen mietenden und vermietenden Personen geschlossen. Die zuständigen Stellen des Amtes mühen sich immer wieder aufs neue, Mindeststandards für die Wohnbedingungen durchzusetzen und Mietüberhöhungen und andere Praktiken wie Mehrfachkassierungen von Monatsmieten durch Erhöhung des 'Mieterumschlags' zu verhindern, haben aber in der Regel nicht mehr in der Hand als das Druckmittel der Nicht-Belegung. Üblicherweise ist das Sozialamt nicht bereit, mehr als 350- 400DM einschließlich Heizkosten, für solch ein Zimmer aufzuwenden. Vor 1979 lag die Obergrenze noch bei 180DM, danach

bei 250DM, stieg dann auf 300DM.

Die Häuser, häufig kleine Bremer Reihenhäuser, sind zwar über das Stadtgebiet verstreut, finden sich aber zumeist in Umgebungen mit Bewohnern nicht allzu großer sozialer Distanz.) Sie heben sich äußerlich oft nicht oder nur wenig von den benachbarten Häusern ab. Innen aber ist die Differenz zumeist deutlich merkbar.

Es gibt eine kleine Anzahl ordentlich renovierter und gut geführter Häuser. Nicht wenige Häuser sind jedoch völlig heruntergekommen: Treppen und Flure schmutzig; Küche, Duschen, Toiletten verdreckt; Ungeziefer; die Zimmertüren demoliert; die Zimmer zugig und schimmelig; Sperrmüllmobiliar.

Die meisten sind aber bloß verwohnt, schäbig und unsauber. Viele VermieterInnen kümmern sich nicht um Zustand und Aussehen der Flure, des Treppenhauses, der Gemeinschaftsküche, der Duschen und Toiletten, in der Regel jeweils zwei, auch wenn mehr als zehn Personen im Haus wohnen. Manchmal ergreifen Bewohner selbst die Initiative, Vermieter stellen Farbe, zeigen sich vielleicht auch noch finanziell erkenntlich.

Die Zimmer: Die Mehrzahl wohl um zehn Quadratmeter, doch auch viele kleinere. Die Wände häufig schon lange nicht mehr gestrichen oder neu tapeziert; wie die zur Standardausrüstung gehörenden Stores und Gardinen bräunlich vom Tabakrauch; die Fenster mit trübem Ausblick; Teppichböden speckig. Die Ausstattung kärglich, meist ein Sammelsurium von Gebrauchtmöbeln, abgewetzt: Schrank, Kommode, manchmal ein Büfett, Tisch, Holz- oder Polsterstühle, ein Bett oder ein kleines Sofa zum Ausziehen oder Aufklappen. Ein Waschbecken ist nicht die Regel. Kochen ist häufig nicht gestattet. Manche Bewohner haben einen eigenen Kühlschrank und eine Kaffeemaschine. In den Ecken und auf dem Schrank Kartons und Koffer. Die meisten Bewohner besitzen, zum Glück, einen Fernseher und einen Radiorecorder. Bilder an den Wänden sind selten.

Die Bewohner wohnen sehr dichtgedrängt in den Häusern. Die Türen lassen die Geräusche vom Flur durch. Privatheit als Ungestörtheit von außen gibt es kaum. Dies fällt um so schwerer ins Gewicht, als die meisten Bewohner sich ja nicht aussuchen konnten, wo und mit wem sie wohnen wollten. Sie bekamen dort ein Zimmer, wo eines frei war. Freunde und Bekannte wohnen meist woanders. So verhalten sie sich zueinander distanziert, haben sie doch alle schon schlechte Erfahrungen mit ihresgleichen hinter sich. Es gibt aber auch unangenehme Cliquen, die anderen 'auf die Bude rücken'. Und dann wird es schwer für Personen, die eigentlich nicht oder nicht mehr trinken wollen, sich dem Druck zum Mittrinken zu entziehen.

Leben in Isolation

Da sie ohne Arbeit sind, finden sich viele so in ihren unfreundlichen Zimmern und unter oft eher ablehnenden Zimmernachbarn auf sich selbst verwiesen. In dieser Situation eines extremen Scheiterns einstiger Vorstellungen vom Leben, des vollständigen Verlustes sozialer Anerkennung und des Fehlens aller Zukunftschancen ist es ungeheuer schwer, dem Leben eigenständige, tragende Inhalte und über den Tag hinausreichende Perspektiven zu geben. Viele halten diese Zerrissenheit nur aus, indem sie versuchen, sich von jeglicher Zukunftsorientierung und oft auch von ihrer Erinnerung abzuschneiden und derart ihre Identität aufzulösen.

Die meisten alleinstehenden Wohnungslosen haben einen Habitus extremer Selbstbescheidung und Selbstausgrenzung. Und versuchen dennoch, ihr Leben in Würde zu führen und auszuhalten. Und sei es nur, indem sie ihr Zimmer sauberhalten, ihr Bett machen, sich regelmäßig etwas kochen, ihre Tage in eine Ordnung bringen, nicht mehr trinken oder ihren Alkoholkonsum mäßigen. Viele haben sich einen beträchtlichen Witz bewahrt und etwas, über das die Helfer und Helferinnen oft nicht verfügen: das Lachen. Doch ist der Tag lang, fällt jedem die Bude, und eben nicht nur diese, auf den Kopf, und es hilft nur das Hinaus: an die Weser, in den Bürgerpark, in die Umgebung oder auf öffentliche Plätze unter Leute.

Diesen Aufsatz zur Wohnungslosigkeit in Bremen hat Friedrich Gerstenberger für den Armutsbericht der Wohlfahrtsverbände geschrieben. Da sich insbesondere die Innere Mission, aber auch die anderen Wohlfahrtsverbände, darin angegriffen sahen, wurde der Text nicht in den Bericht "Armut in Bremen" (Edition Temmen, 1993) aufgenommen. Wir liefern ihn, leicht gekürzt, hiermit nach.

Friedrich Gerstenberger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Uni Oldenburg und arbeitet seit Jahren über Wohnungslose.