"Die Umkehrung der 68er Bewegung"

■ taz-Interview mit Verfassungsschef Ernst Uhrlau über den Rechtsradikalismus in Hamburg, Gegengewalt, die Rolle der Staatsorgane und "Motivationsschübe" durch Applaudierende Bürger / Asyldebatte ist...

über den Rechtsradikalismus in Hamburg, Gegengewalt, die Rolle der Staatsorgane und »Motivationsschübe« durch applaudierende Bürger / Asyldebatte ist »Wind in den Segeln« rechter Organisationen / Rechtsradikale auch an den Unis?

taz: Hoyerswerda, Eberswalde, Rostock, Mölln, täglich gibt es Anschläge auf Ausländer. Hat der Verfassungsschutz das Gewaltpotential des Rechtsextremismus unterschätzt?

Uhrlau: Nein. Den Schuh ziehe ich mir in Hamburg nicht an, angesichts der Anstrengungen, die wir unternommen haben. Wir waren zum Beispiel zusammen mit Nordrhein-Westfalen die einzigen, die sich frühzeitig in klassischer Weise um die Republikaner gekümmert haben.

Sie definieren den Verfassungsschutz als Beratungsinstrument für die Politik zur Beurteilung extremistischer Strömungen. Kein Versagen?

Gegenüber der Hamburger Politik kann ich das nicht erkennen.

Und darüber hinaus?

Dazu möchte ich mich nicht äußern.

Keine Unterschätzung in Hamburg? Warum wurde dann erst jetzt, also nach den Morden von Mölln, die personelle Ausstattung des Staatsschutzes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus verstärkt, und nicht schon vorher, als der Verfassungsschutz auf die Gefahren hingewiesen hat?

Der Staatsschutz hat interne Personalumsetzungen vom Linksextremismus zum Rechtsextremismus vorgenommen und sich damit der veränderten Entwicklung angepaßt. Wenn Sie sich die Gewalttaten in Hamburg ansehen, dann hält sich diese Entwicklung bisher in Grenzen. 19 Übergriffe waren es im vergangenen Jahr, in diesem Jahr sind es bisher 25, davon 14 nach den Ereignissen von Rostock, die den rechtsextremen Gruppen bundesweit einen Motivationsschub verliehen haben. Vor Rostock hatten wir in dieser Republik um die 600 Gewalttaten, und Ende November sind wir bei rund 2000. Wenn wir befürchten müssen, daß die Gewalt von rechts keine kurzfristige Erscheinung ist, ergeben diese Personalumsetzungen schon einen Sinn.

Wieviel organisierte Rechtsradikale gibt es nach Ihrer Schätzung in Hamburg?

1400, das ist im Vergleich zur Mitte der 80er Jahre eine Verdoppelung, die unter anderem durch den Zuwachs bei der Deutschen Volksunion zu erklären ist. Außerdem sind die Republikaner als Teil unseres Beobachtungsauftrags hinzugekommen und die rechtsextremistisch motivierten Skinheads, also jener Teil der Skinhead-Szene, der auch in neonazistischen Organisationen auftaucht.

Skins noch nicht so lange auf der Liste

Die waren früher nicht auf ihrer Liste?

Der Anteil der rechtsextremistisch motivierten Skins ist erst in den letzten Jahren größer geworden. Die Verfassungsschutzbehörden kümmern sich in der Tat noch nicht so endlos lange um die Skinheads als Teil des Rechtsextremismus.

Ein Fehler?

Das, was die Verfassungsschutzbehörden in den 80er Jahren mitbekommen haben über die Verbindungen zwischen Skinheads und Neo-Nazis, das floß dann ja schon ein in die normale Berichterstattung. Und die besagte, daß die Skinheads Teil einer jugendlichen Subkultur sind, gewaltbereit, aber nur zum geringen Teil in neonazistischen Organisationen verhaftet. Michael Kühnen hatte in den 80er Jahren einen Versuch unternommen, sowohl die Skinheads als auch die Hooligans für seine Kaderbewegung zu instrumentalisieren. Er hat diesem Versuch selber eine Absage erteilt, weil er festgestellt hatte, daß sie nicht disziplinierbar seien. Parallel dazu — im Zuge der Spaltung des Neo-Nazismus in einen Kühnen-feindlichen Flügel und einen Kühnen-Flügel — ist im Kühnen-feindlichen Flügel, der FAP, die Bereitschaft sehr viel größer

1gewesen, mit den Skins zu kooperieren. Denen ging es um Masse und nicht um Klasse. Und über diese Kontakte der 80er Jahre sind eine Reihe von Politisierungsprozessen gelaufen. Wobei die Neo- Nazis durchaus akzeptieren, daß die Skins ihren eigenen Weg gehen. Parallel dazu sind autonome, lokale, rechte Gruppen entstanden.

Beobachtet haben Sie, trotzdem trifft die zunehmende Gewalt die Behörden unvorbereitet. Hat man das nicht voraussehen können?

Die Zahlenbilanz des vergangenen Jahres ist ja für sich betrachtet schon dramatisch genug gewesen. Wir hatten im vergangenen Jahr 1483 dem Verfassungsschutz bekannte Gewalttaten, davon ein Drittel Brandanschläge beziehungsweise versuchte Brandanschläge. Dabei gab es drei Tote und 700 Verletzte. Das weist der Verfassungsschutzbericht auch aus. Daß es nicht mehr Tote gegeben hat, ist häufig eine Frage des Zufalls gewesen und der Schnelligkeit der Polizei. Insofern haben die Ereignisse dieses Jahres keine grundsätzlich neue Qualität.

Wenn sich das hat absehen lassen, man es an Zahlen ablesen konnte, muß man daraus nicht folgern, daß die Strafverfolgungsorgane die Rechtsradikalen zu lange gewähren ließen?

1Da machen Sie einen Kurzschluß. Sie ordnen die Gewalttaten automatisch dem organisierten Rechtsextremismus zu, den man kontrollieren kann.

In Mölln ist man den unorganisierten Tätern plötzlich sehr schnell auf die Spur gekommen. Da wurden nach den Morden auf einmal Leute festgenommen, die die Polizei schon sehr viel früher im Auge hatte. Dann schaltet sich auf einmal der Generalbundesanwalt ein, dann wird von oben Druck gemacht, und auf einmal geht's.

Stimmungsmache zeigt Breitenwirkung

Sie können mich für die Situation in Schleswig-Holstein nicht in Anspruch nehmen. Ich weiß nicht, welche Anstrengungen vorher gelaufen sind, um Straftaten aufzuklären. Aber die Problematik für die Sicherheitsbehörden allgemein ist, daß heute ein hoher Prozentsatz der Täter Gewalt ohne jegliche Organisationsbeziehung ausführt. Die ausländerfeindliche Gewalt hat sich von den Rändern stärker in die Mitte der Gesellschaft geschoben. Eine Gewalt, die es in dieser Gesellschaft schon immer gegeben hat, die jetzt umgelenkt wird auf Ausländer.

Die Ausländer als zufällig gewählte

1Opfer, daran können wir nicht glauben.

Die Stimmungsmache gegen Ausländer aus den klassischen rechtsextremistischen Parteien, wie DVU, NPD und Republikanern, hat Breitenwirkung erzielt. In Verbindung mit den Zukunftsängsten der Täter. Die Opfersuche orientiert sich dann an dem Schwarzweiß-Muster, fängt an beim schwächsten Glied einer Kette. Dazu kommt, daß die Akzeptanz einer Partei rechts des demokratischen Spektrums in den letzten eineinhalb Jahren größer geworden ist. Und dazu kommen die Bilder aus Hoyerswerda, Rostock, Quedlinburg: Beifall und Unterstützung von Anwohnern, Rückzug des Staates an dieser Stelle. Da können sich rechtsradikale Gewalttäter subjektiv der Unterstützung einer wie auch immer gearteten Minderheit der Bevölkerung sicher sein.

Sie sprechen von rechter Stimmungsmache, die eine Breitenwirkung erzielt habe. Wie sieht es denn mit der Breitenwirkung der anderen Parteien aus? Beispielsweise in der Asyldebatte.

Sie ist in einer Art geführt worden, die sowohl Republikanern als auch DVU, als auch den Neo-Nazis Wind in die Segel gebracht hat.

Und denen, die die Anschläge begehen.

Und denjenigen, die sich nun ei-

1nes gewissen Rückhalts in der Bevölkerung sicher sind, wenn sie Gewalt ausüben. Diejenigen, die die Anschläge machen, sind Stellvertreter für jene, die zwar klatschen, aber selber nicht den Stein werfen. Oder Mollis. Allerdings dürfen Sie bei der Asyldebatte nicht vergessen, daß auch die steigenden Asylbewerberzahlen und die Erfahrungen mit Engpässen in den Kommunen Breitenwirkung erzielt haben.

Also verantwortlich sind die Engpässe, nicht diejenigen, die damit umgehen?

Das hängt miteinander zusammen. Das kann man nicht entkoppeln.

Keine Lücken im Strafrecht

Zurück zum „Beratungsinstrument Verfassungsschutz“. Was empfehlen Sie den Politikern jetzt, neue Gesetze, Verbot von Organisationen?

Ich sehe nicht, daß unser Strafrecht lückenhaft ist. Nötig ist konsequenteres Zugreifen, auch bei den Skins. Verbote von Organisationen können im Einzelfall hilfreich sein. Insgesamt muß der Staat daran arbeiten, daß sein Gewaltmonopol nicht zur Disposition gestellt wird.

Das heißt?

1Das bedeutet, daß man alles tun muß, um die Täter sehr schnell zu überführen und sehr schnell zu verurteilen. Und das bedeutet auch, so paradox das für die taz klingen mag, die Polizei braucht die Rückendeckung der Bevölkerung. Ächtung von Gewalt ist ein Bestandteil, um das Gewaltmonopol aufrecht zu erhalten, das gilt rechts und links. Ohne diese Rückendeckung sind unorganisierte Gewalttäter nicht zu packen.

Es gibt nicht wenige Menschen, die den Staatsorganen überhaupt nicht zutrauen, das Problem in den Griff zu kriegen, die Gegengewalt als einzige Möglichkeit sehen, die zur Selbstverteidigung aufrufen, wie Ralph Giordano.

Gegen Neo-Faschismus, gegen Ausländerfeindlichkeit vorgehen zu wollen, legitimiert nicht zu Gewalt, auch nicht gegen Rechte. Das schaukelt sich dann gegeneinander auf. Deshalb müssen wir jetzt deutlich machen, daß wir das Gewaltmonopol haben. Und daß keiner das Recht hat, sein vermeintliches Recht in Form eines Steins oder eines Mollis in die Hand zu nehmen, ganz gleich gegen wen.

Täuschen wir uns, oder schwingt da wieder der von Ihnen schon öfter geäußerte Vergleich zwischen Links und Rechts, zwischen linker 68er Studentenbewegung und Rechtsradikalismus heute mit?

Ansätze für eine Intellektualisierung

Die 68er Bewegung stand für eine bestimmte Entwicklung. Sie wurde getragen von der jungen Generation. Das, was wir zur Zeit erleben, wird ebenfalls überproportional von einer jungen Generation getragen. 68 waren die Zielrichtungen Toleranz, Internationalität, Partizipation, was auch immer. Wenn Sie die Gegenbegriffe zu diesen Zielen nehmen, dann finden Sie genau das, was Sie heute im rechten Bereich haben. Das ist die Umkehrung der 68er Bewegung. Sie wird diese Republik in ganz erheblichem Ausmaß verändern. Aber natürlich beinhaltet die derzeitige Entwicklung eine ganz andere Militanz, ein ganz anderes, menschenverachtendes Vorgehen, als das 68 der Fall war.

Damals ging die Bewegung von den Universitäten aus.

Es gibt Ansätze für eine Intellektualisierung im rechten Bereich.

Auch an den Unis, an den Hamburger Hochschulen zum Beispiel?

Ich möchte das lieber losgelöst von einzelnen Unis sagen, aber der Rechtsextremismus ist dabei, sein bisheriges soziales und intellektuelles Ghetto zu verlassen. Rechte Erklärungsmuster, abseits des plumben Neo-Nazismus, gewinnen an Attraktivität, auch an den Universitäten. Biologistische Erklärungsmuster, Anti-Liberalismus, das bekommt Konjunktur, nachdem die visionären oder marxistisch-leninistischen Erklärungsmuster kaum noch eine Rolle spielen.

Welche Rollen spielen dabei die Burschenschaften?

Sie erfreuen sich zumindest in den neuen Ländern regen Zulaufs. Sie können ein Ansatzpunkt sein.

Beobachten Sie diese Organisationen?

Nein, wir machen keine vorbeugende Beobachtung, sondern werden tätig auf der Grundlage des Gesetzes. Wir schauen dann in Organisationen rein, wenn wir eine rechtliche Zuständigkeit haben.

Wann ist das der Fall?

Wir folgen unserer Kundschaft.

Und kommen dann zu spät?

Umgekehrt: Wir können nicht einen Raum betreten, bevor unsere Kundschaft drin ist. Das wäre rechtswidrig.

Rechtsextreme Organisationen an der Uni sind ihnen noch nicht bekannt?

Wir gucken interessiert, was unsere Kundschaft macht, mehr sag' ich dazu nicht.

Die Fragen stellten Torsten Schubert und Uli Exner