Triebhasardeure, Medienpädagogen

■ Eine Tagung zu Gewalt und Moral im Film

Etwa siebzig Gläubige und einige Abtrünnige versammelten sich im Spätherbst auf dem Berg in Arnoldshain bei Frankfurt, um das Thema „Film als Provokation von Ethik und Moral“ zu erörtern. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei der ästhetischen Grenzüberschreitung und ihrer Wirkung auf Religion und Gesellschaft.

Obwohl die Kirchen alle Anstrengungen zu unternehmen scheinen, ihre Schäflein zu hüten, kann man ihnen eine gewisse Ungerührtheit im Umgang mit Provokation nicht absprechen. So gab es kaum Teilnehmer, die Gewaltinszenierungen per se ablehnten. Deshalb wurden stereotype Interpretationen vermieden; ästhetische Urteile sollten nicht von moralischen bestimmt werden. Gerade die theologische Kritik, so zeigte sich in Arnoldshain, muß in diesem Spannunsfeld operieren.

Speziell ein Film wie Derek Jarmans „The Garden“, der erste Film der Tagung, ist da eine Herausforderung. Die Karikierung der Passionsgeschichte Jesu brüskiert eine traditionelle Haltung kirchlicher Filmkritik ebenso wie die offene Homosexualität und der Umgang mit Aids. Für kirchliche Filmkritiker im Dunstkreis der Zeitschrift epd-Film, die diese Traditionen längst hinter sich gelassen haben, stellt sich das Problem in abgewandelter Form. Die „vollzogene Lösung aus moralischen Bindungen“ im säkularen Leben, so konstatieren die Veranstalter, träfe auf eine kraftlose Theologie, die ihr moralisches Veto nur noch gegen unproduktive, das heißt nicht funktionalisierbare Gewaltästhetik richtet. Wie selbstverständlich werde ein Kausalzusammenhang zwischen „ästhetischem Raffinement und moralischer Akzeptanz gezogen“, sagte Carsten Visarius in seinem Einleitungsreferat. Zwar seien Filme seit jeher an bürgerliche Geschmacksnormen angepaßt, aber durch künstlerische Veredelung ließen sich diese beliebig ausdehnen.

Filme wie Scorseses „Cape Fear“ würden demnach automatisch zur Lockerung des moralischen Empfindens führen: Jeder Horrorfilm-Fan ein Triebhasardeur. Dem stand entgegen, daß der Film von den Tagungsteilnehmern weitgehend als „bedeutungslose Grenzüberschreitung“ beurteilt wurde, und daß ja gerade die Splatterfans sehr pingelig sind in bezug auf die Ästhetik ihres Genres, auf Special Effects und Plot-Konventionen, daß sie also keineswegs hauptsächlich auf die blutige Moral von der Geschicht' achten.

Auch dem „normalen“ Cineasten dürfte nicht gleich das ethische Korsett reißen, wenn ihn Filme wie „Das Schweigen der Lämmer“ faszinieren. Die Unterscheidung zwischen realer und „nur vorgespielter“ Gewalt ist ganz offensichtlich nicht mehr von theoretischem Interesse.

Hier knüpfte das Referat des Filmpublizisten Georg Seeßlen an, das in einem langen Abriß die „verbotenen Bilder“ von Gewalt, Sexualität und Wahn behandelte. Seine These lautet: Jede Gesellschaft tabuisiert bestimmte Bilder, entwickelt aber gleichzeitig Strategien, sie wieder zu legitimieren. Besonders die Distanzierung (der Blick durch das Schlüsselloch) und die Massenrezeption („das machen ja schließlich alle“) könnten das Blickverbot umgehen. „Alle geselllschaftlichen Tabus lassen sich als Mythos darstellen.“ So würde das Gefährliche und Anarchische der Sexualität in der (Film- )Familie entwertet, Gewaltdarstellung im Kitsch und in der Unterhaltung aufgehoben. Film, und das war nicht die neueste Erkenntnis, trenne seine Darstellung von der „sinnlichen Konkretion des Geschehens“. Zwar seien Gewalt und Schönheit aufs engste miteinander verquickt, aber jede Gesellschaft wisse sehr wohl zwischen „sauberer“ und „unsauberer“ Gewalt zu unterscheiden: Technisierte Maschinenschlachten wie in „Rambo“ werden eher akzeptiert als das unvermittelte Einblenden einer zerquetschten Hand oder eines zerschnittenen Auges.

Beides, so Seeßlen, ist darstellbar, aber nur die „saubere Version reüssiert bei der Filmbewertungsstelle als wertvoll“. Hieraus zieht Seeßlen den Schluß, daß es keine wirkliche Grenzüberschreitung gebe, sondern diese vom Zensor erfunden wird. Denn schließlich ist mit den „verbotenen Bildern“ und der Grenzziehung ein bedeutender Herrschaftsaspekt verbunden, der jedes moralische oder religiöse System in die Lage versetzt, Macht auszuüben und Ausgrenzung zu betreiben.

In eine ähnliche Richtung zielte das Schlußreferat des Berliner Philosophen Dietmar Kamper, der in enger Anlehnung an Michel Foucaults „Sexualität und Wahrheit“ (1976) die Unterdrückung von/ durch Sexualität untersuchte. Foucault leitete die Repression von Sexualität und eine Emanzipation davon aus demselben Machtkomplex ab. Die Kirche habe Sexualität erfunden und den „Geständniszwang“ (Beichte) eingeführt, um die Gläubigen von den Häretikern zu trennen: als System der inneren Kontrolle (Sünde). Hierdurch würde Sexualität mehr verwaltet als unterdrückt, und sowohl das Thematisieren als auch das Verschweigen („darüber spricht man nicht“) von Sexualität sind dem verpflichtet. Bis heute, so Kamper, funktioniere dieses „Dispotiv“ über die Kontrollmechanismen, von der Erziehung bis zum Strafgesetzbuch, von der Askese bis zur Therapie. Die Gründe lägen in der Erlösungsfunktion von Sexualität für den Menschen, die den Allein- Erlösungs-Anspruch der Religionen unterläuft. Das bedeutet für die ästhetische Grenzüberschreitung freilich, daß sie keine wirklich sprengende Kraft hat. SIe hätte bloß den Status einer neuerlichen voraussagbaren Grenzlegung und könnte gar nicht über ihren selbstgezogenen Horizont hinaus.

Dieses sehr männliche und lustfeindliche Denken, so die anschließende Kritik, habe irgendwie das Thema verfehlt. Anscheinend hatte sich zwischen Moraltheologie, Mythensuche und Dispositiven der (überfrachtete) Tagungsgegenstand, die filmische Provokation, klammheimlich verdrückt. Zumindest fällt im nachhinein auf, wie wenig über Filme geredet wurde. Doch immerhin blieb die Kirche im Dorf. Helmut Merschmann