■ Clinton ist nicht Roosevelt
: Babyboomer an der Macht

Zweifellos haben wir gute Gründe, über die Niederlage Bushs glücklich zu sein. Aber wie steht es mit dem Sieg Clintons? Ein Gefühl der Erleichterung und der Freude über das Erreichte ist völlig legitim. Gibt es jedoch auch Grund zur Euphorie? Da bin ich erheblich skeptischer. Es ist recht deutlich geworden, daß diese Wahl viel eher als entscheidende Niederlage für Bush und als Ablehnung des Reaganismus zu werten war, und nicht als Mandat für Clinton und die Demokraten. Es gibt keinen Wählerauftrag. Statt dessen hat sich das amerikanische Volk auf einen pragmatischen Vertrag mit Clinton und dessen Team eingelassen. Dieser Vertrag besagt schlicht und einfach: In einer Reihe von Fragen mußt du besser sein als Bush. Wenn nicht, wirst auch du dich als Präsident mit einer Amtszeit bescheiden müssen. Die tiefsitzende Skepsis gegenüber aller Politik, die den durch das Fernsehen unterstützten autoritären Populismus Perots nährte, bleibt mit Sicherheit ein Angriffspotential gegen etablierte Institutionen.

Und dies erwarte ich von der Präsidentschaft Clintons:

1. Eine merkliche Verbesserung des herrschenden Tons. Der Ton ist nicht die Substanz, aber er macht die Musik. Und wir alle wissen, daß besonders in der Politik die Symbole häufig ebenso wichtig sind wie die Substanz. Die Zeiten der aus dem Weißen Haus und seiner Umgebung ausdünstenden Reaktion sind vorüber. Schließlich ist Hillary Clinton die erste First Lady in der Geschichte der Republik, die eine erfolgreiche eigene Berufskarriere aufzuweisen hat. Von der obersten Führung dieses Landes ist also keinerlei Sexismus mehr zu erwarten, kein Rassismus, keine Lobpreisung des Hergebrachten.

2. Es wird deutliche Verbesserungen auf der sogenannten sozialen, politischen und kulturellen Ebene geben. Konkret erwarte ich von der Clinton-Präsidentschaft erheblich bessere Leistungen als bei jeder ihrer Vorläufer, gerade bei den 68er-Themen, die den kulturellen Kern dieser Generation ausmachten. Also wird Clinton eine positivere Politik in Umweltfragen, gegenüber den Minderheiten, gegenüber Homosexuellen und Lesbierinnen betreiben. Der Gesetzentwurf über den Familienurlaub wird verabschiedet, sexuelle Belästigung wird öffentlich weit stärker stigmatisiert werden (vielen Dank, Anita Hill!), sprachlich wird man sich noch mehr hüten, potentiell benachteiligte Gruppen zu beleidigen – kurz, von der Führung dieses Landes wird eine mitfühlende und progressive Aura ausgehen, wie wir sie zuvor nie erlebt haben.

Schließlich: Die Empfindungen der späten Sechziger, in denen die Generation der baby boomer aufwuchs, finden sich zum ersten Mal im Herzen des Establishments. Ein Aktivist gegen den Vietnamkrieg ist Präsident der Vereinigten Staaten. Das sagt so ziemlich alles! Mit anderen Worten: Ich erwarte von der Clinton-Präsidentschaft viel bei den „grünen“ (oder sogenannten „post-materiellen“) Themen, um eine deutsche Analogie zu verwenden.

3. Weit skeptischer bin ich hinsichtlich der sozialdemokratischen („materiellen“) Themen. Dies ist von besonderer Ironie, da die Demokraten nur mittels einer Koalition sozialdemokratischen Stils an die Macht kamen und bleiben können. Die Wahl hat dies eindrucksvoll bestätigt: Clinton gewann, weil er eine Wählerkoalition entlang den Achsen der Arbeit, Beschäftigung und Wirtschaftsreformen zu schmieden vermochte. Clinton gewann, weil er „Reagan-Demokraten“ zu „Clinton-Republikanern“ umpolen konnte. Aber wie lange bleiben sie bei der Stange? Wie lange wird die gegenwärtige zerbrechliche demokratische Koalition halten? Nicht sehr lange, fürchte ich, und zwar aus den folgenden Gründen:

a) In mehr als einer Hinsicht schreiben wir nicht das Jahr 1933. Als Franklin Delano Roosevelt sich in den berühmten hundert Tagen daran machte, seinen new deal in Gang zu bringen, hatte das Land nicht unter einem enormen Budgetdefizit und öffentlichen Schulden zu leiden, wie es heute der Fall ist. Das heißt: Roosevelt standen die ungeheuren Möglichkeiten eines ungezügelten Keynesianismus zu Gebote. Er konnte nach seinem Belieben – und dem seiner Verbündeten im Kongreß – gegen die Inflation vorgehen. Das kann Clinton nicht. Er ist mit der schädlichsten und bewußt reaktionären Erbschaft der Reagan-Ära konfrontiert: der aufgrund der immensen Defizite praktischen Unmöglichkeit, eine entschieden expansionistische Wirtschaftspolitik zu verfolgen, bei der Regierungsausgaben den Vorreiter spielen könnten.

b) Auch in anderer Hinsicht schreiben wir nicht 1933: was die Autorität des Präsidenten und die soziale Homogenität der politischen Klasse anbelangt. Clinton mag plötzlich ungeheuer populär werden – was er bisher interessanterweise noch nicht ist –, aber er wird niemals den Kongreß so kontrollieren können, wie es FDR (und auch noch Lyndon B. Johnson) tat. Das Amt des Präsidenten besitzt nicht die Autorität, die es 1933 und selbst noch 1963 genoß. Mehr noch: Auch wenn eine Mehrheit beider Häuser des Kongresses nominell aus Demokraten besteht, sind die einzelnen Abgeordneten vor allem ihren Wählerschaften verpflichtet, nicht dem Präsidenten. Und angesichts der nunmehr immer realer werdenden Heterogenität der politischen Klasse – mehr Frauen, mehr Minderheiten – haben „Clubs“ und die Loyalität „alter Kumpel“ einfach ihre Effektivität verloren. So sehr Clinton sich anstrengen mag: Er wird kein Premierminister oder Bundeskanzler werden; und ebensowenig wird aus dem Kongreß ein Parlament.

c) Wenn die Koalition weiter zusammenhalten soll, müßte dem Land ein ökonomisches Wachstumsprogramm verordnet werden, wie es das in seiner bisherigen Geschichte niemals erlebt hat. Clinton müßte eine Politik der Steuererhöhungen betreiben – Steuererhöhungen sehr beträchtlichen Ausmaßes in allen Bereichen. Das wird er nicht tun. Es ist eine weitere Erbschaft des Reaganismus – und die offensichtliche Erscheinungsform eines verborgenen und daher akzeptablen Rassismus – daß jede relevante Besteuerung im heutigen Amerika schlicht undurchführbar ist. Das ist traurig, aber wahr. Und ohne diese Art Besteuerung werden sämtliche Wirtschaftsreformen bestenfalls kosmetisch bleiben. Die Linderung (zu schweigen von der Beseitigung) der Hauptübel des Landes – Verfall der Städte, Drogenproblem, Unterklasse, Verbrechen, unzureichende Infrastruktur – verlangt ungeheure finanzielle Mittel, die weder Clinton noch der demokratisch beherrschte Kongreß zusammenbringen können, weil eine Mehrheit des amerikanischen Volkes, angeführt vor allem von den konvertierten Clinton-Republikanern, dabei nicht mitspielen will. Um es platt auszudrücken: Ich fürchte, daß Orte wie South Central Los Angeles, Chicagos West Side und East St. Louis auch 1996 als Wohngebiete nicht viel menschlicher sein werden als heute. Andrei S. Markovits

Leiter des Instituts für Politikwissenschaft; University of California, Santa Cruz