Neue Mauern in Lettland

Andrei Levkin über nationale Hysterie und Ethnopsychologie  ■ Irena Maryniak

Auf dem Bahnsteig kurz vor Mitternacht standen Menschen in kleinen Gruppen. Der Zug sollte in zehn Minuten abfahren. Nirgendwo ein Licht. Irgend jemand versuchte offenbar, eine Zugtür von innen zu öffnen. Das dauerte seine Zeit – schließlich kam ein Betrunkener herausgetorkelt. Ein paar Minuten später stiegen drei weitere Gestalten aus dem Zug und machten sich schwankend den Bahnsteig entlang auf den Weg. Dann kam ein Bahnbeamter und öffnete die Tür. Wir durften einsteigen. Man war grob, aber gutgelaunt. Ein deutscher Akademiker in meinem Abteil erzählte, von seiner Fahrt durch den Ural mit einer Gruppe von Gefangenen: „Ich war nicht ohne Angst“, gestand er, als der Zug endlich aus Tallinn gen Süden abfuhr ...

Riga ist eine alte Hansestadt. An ihren Gebäuden kleben Spuren von deutscher und russischer Eroberungsgeschichte. Es war der 1. Mai, und auf dem Platz vor dem Latvia-Hotel fand eine Demonstration von prosowjetischen Organisationen statt. Die Kundgebung fand auf russisch statt, und die Worte hallten weit über den Platz hinaus – Appelle an die Presse, Klagen über die Wirtschaft und Forderungen nach dem Ende der Apartheid und Diskriminierung. Es gab Slogans wie „Arbeiter, vereinigt Euch!“, und viele rote Fahnen flatterten fröhlich über den Köpfen der Menge. Etwa zweitausend waren gekommen, ihr Durchschnittsalter war etwa fünfzig. Eine ältere Frau sammelte Geld für politische Gefangene. Ich fragte sie, wer die Gefangenen sind. „Rubiks und Parfyonok“, sagte sie. „Parfyonok hat vier kleine Kinder.“ Alfred Rubiks war vor dem Putsch Generalsekretär der Kommunistischen Partei Lettlands, Igor Parfyonok einer der Führer der „Schwarzmützen“- Sondereinheiten, die im Januar 1991 das Pressezentrum von Riga besetzt hatten. Später kam es am gleichen Ort zu einer Kundgebung lettischer Nationalisten, man sang patriotische Lieder, nur die Sänger schienen überzeugt. Ein russischer Passant brummte vor sich hin: „Das soll wohl ein Witz sein!“

Die Russen haben in Riga eine längere Geschichte als in Tallinn und stellen ziemlich genau die Hälfte der Bevölkerung. In den Straßen hört man mehr Russisch als Lettisch. Ich unterhielt mich mit dem lettisch-russischen Schriftsteller Andrei Levkin über das Selbstbild seiner Landsleute.

Andrei Levkin erzählt

„Russen haben hier seit dem 17. Jahrhundert gelebt. Ungefähr alle hundert Jahre kam eine neue Welle an. Vor 1940 waren etwa 15 Prozent der Bevölkerung Russen, einige Emigranten aus Sowjetrußland, andere Nachkommen früherer Siedler. Für Emigranten war Lettland eine Station auf dem Weg nach Berlin oder Prag. Sie brachten hier Zeitungen heraus. Zwetajewa, Nabokov. Das Übliche. 1940 wußten sie am besten Bescheid über das, was ein sowjetisches Regime bedeutete, und sie machten sich davon. Kaum einer aus dieser Zeit blieb hier. Obwohl man auch die traurige Tatsache nicht verschweigen darf, daß viele sogar schon 1934 weggehen mußten, während des Staatsstreich. (Am 15. Mai 1934 erklärte Premierminister Karlis Ulmanis den Notstand und löste alle politischen Parteien auf; Anm. d. Red.) Das war zweifellos eine Art von Faschismus hier. Wir nannten es Sozialismus.

Nach dem Krieg wurde die Schriftstellervereinigung gegründet. Wir sind jetzt auch Sowjetunion, also laßt uns eine Gewerkschaft der Schriftsteller in Lettland gründen, dachte man wohl. Aber es gab darin keine Russen. Also holten sie welche aus Rußland und siedelten sie hier an. Sie wurden Lettland russische Schriftsteller. Manche von ihnen leben noch. Sie schreiben ziemlich merkwürdiges Zeug.

Damals lag der Anteil der russischen Bevölkerung bei etwa 20 bis 25 Prozent, glaube ich. Meine eigene Familie (ich bin zu einem Viertel lettisch) wurde 1914 während des Ersten Weltkrieges deportiert. Man holte eine ganze Menge Letten nach Rußland, denn dort war die Industrie konzentriert. Wir lebten in Nishni Novgorod. 1945 durften wir zurückkehren, aber das war keine angenehme Sache. Wenn auch ein Teil der Familie zurückdurfte, mußte ein anderer immer dort bleiben. Und niemand wußte, was sie ‘dort‘ erwartete. Nach dem Krieg kamen einige zurück, und die russische Bevölkerung wuchs auf 25 bis 30 Prozent an. Ich glaube, sie waren hier ganz zufrieden. Aber dann begann die industrielle Entwicklung. Riga war immer schon ein industrielles Zentrum gewesen, unter der Zarenherrschaft war die Stadt hochentwickelt und natürlich ein wichtiger Hafen. Das Problem war nur, daß Riga bis zum Ersten Weltkrieg eine deutsche Stadt gewesen ist. 1940 verschwanden die Deutschen, und es hat wesentlich weniger Letten als Deutsche hier gegeben. Riga ist eine Stadt, die sich ständig völlig verändert, eine Stadt ohne Einheimische. Die Letten sind es nicht, weil sie die Stadt nicht gebaut haben. Es ist eine deutsche Stadt. Die Deutschen hatten sie sich zu ihrer Bequemlichkeit und als Trost hierhergebaut – Leute, die eigentlich lieber in kleinen Städten wohnen. Sie hatten eine andere Auffassung vom Leben und es immer schwierig gefunden, sich hier wirklich niederzulassen und zu leben. Das gleiche gilt für die Russen.

Viele Russen siedelten sich in Moskovsky-Warschat an, das ist ein bißchen außerhalb der Stadt, fast eine russische Enklave. Man nahm die industrielle Produktion wieder auf. Die Fabriken waren ja noch da, sechs jedenfalls, und man holte Leute aus Rußland. Das war in den Sechzigern und besonders in den Siebzigern. Diese Leute waren eigentlich keine unqualifizierten Arbeitskräfte, sondern ganz respektable Leute. Aber sie kamen zur falschen Zeit. Heute können die Älteren gar nicht verstehen, daß wir jetzt nicht mehr in der Sowjetunion leben. Sie sind offenbar der Ansicht, daß alles noch so ist wie unter Breschnew, Andropow und Gorbatschow. Ihr Unverständnis darüber, daß sich alles geändert hat, ist nahezu physisch.

Ich bin 37 Jahre alt und durch und durch Rigaer. In den Achtzigern hatten wir hier unseren eigenen literarischen Zirkel, ungefähr zehn bis fünfzehn Leute. Wir begreifen uns nicht als Letten, sondern als Rigaer, Städter. Andererseits kann man kein russischer Schriftsteller sein und ewig in Riga sitzen. Man braucht den Kontakt mit Rußland. Daran hat man hier wenig Interesse. Nur wenige haben sich darum wirklich bemüht, wohl wegen der Konkurrenz. Hier ist man wer, es geht einem gut, man schreibt, alles ist in Butter. Dann geht man nach Sankt Petersburg, und was da mit einem passiert, ist völlig unvorhersehbar. Das ist nicht so einfach zu verkraften. Die Leute lesen nicht mehr viel, weder hier noch in Sankt Petersburg. Außerdem hat hier diese Hysterie eingesetzt. Alles wäre zu ertragen, wenn es bloß nicht so hysterisch zuginge. Dieser Nationalismus, er ist chaotisch. Jeder will jetzt reich und berühmt werden, und die Russen haben Angst, daß man sie verjagen will. Viele Russen haben lettische Ehepartner und sich dann meist assimiliert. Bei mir ist das anders. Ich lebe völlig in einem russischen Milieu, aber ich kenne viele Letten und arbeite gut mit ihnen zusammen. Das ist, als gäbe es eigentlich keine Trennung – aber es gibt eben doch eine. Man könnte ethnopsychologisch sagen: wir sind einfach unterschiedliche Naturen. Zum Beispiel wird man kaum je einen Fremden in einem lettischen Haus zu Besuch finden – bei den Russen dagegen ständig. Letten finden es unvorstellbar, jemanden nicht zu kennen. Das hier ist ein kleines Land mit nur 1,5 Millionen Menschen. Jeder kennt jeden. Sie sind allem Fremden gegenüber mißtrauisch, eben weil es fremd ist.

Selbst Familien, die in benachbarten Dörfern leben, sehen sich manchmal nur zweimal im Jahr. Wenn ich einen lettischen Kollegen besuchen will, muß ich ihn vorher anrufen, und dann wird es ein richtiger Besuch. Er hat sich umgezogen und seine Frau dazugebeten, und man empfängt mich zum Tee, den man aus hübschen kleinen Tassen trinkt, nett und wie es sich gehört. Bei den Russen ist es genau andersrum. Man sitzt und wartet: irgend jemand kommt immer vorbei. Man weiß nicht wer, aber für einen Scherz miteinander wird es reichen. Ja, wirklich, es kommt immer einer vorbei, ob man will oder nicht ... Wenn es um Besitz geht, haben die Russen wenig Ambitionen. Keiner hier hat es besonders auf das Land abgesehen.

Selbst unter den Kommunisten war die Akademie der Künste ausschließlich lettisch. Man mußte die Sprache können, was natürlich auch völlig in Ordnung war. ,Leute mit Kultur‘ waren Letten. Ich studierte Computertechnik in Moskau. Die Auswahl für die Studienplätze dort lief nach dem Muster ab: zuerst kamen die Letten dran, danach die russischen Kommunisten, dann kam der Rest. Es gab ganz klare Trennungen. Die Russen beschweren sich jetzt, daß sie Bürger zweiter Klasse geworden seien. Aber das ist in Wirklicheit ein Fortschritt. Vorher waren wir Bürger vierter Klasse. Zuerst kamen die lettischen Kommunisten, dann die russischen Kommunisten, dann die Letten und erst dann die Russen und alle anderen. Einen Vorteil allerdings hatten wir: der KGB kam nie bis zu uns durch. Der hatte genug zu tun mit den lettischen Nationalisten und mit den Juden, die auswandern wollten. Wenn man jetzt in das alte Stadtzentrum kommt, sieht man eine Mauer – die letzte Mauer in Europa, eine Art Berliner Mauer. Sie wurde vor einem Jahr zusammen mit den Barrikaden gebaut und ist bis jetzt nicht wieder abgerissen worden. Als ob die Regierung nicht so recht davon überzeugt wäre, daß sie wirklich die Regierung ist. Vielleicht stimmt das ja auch ... Sie haben sich für die Unabhängigkeit entschieden – mehr kriegen sie irgendwie nicht hin.“