„Breiter Strom vom Balkan“

■ In der Berichterstattung über Flüchtlinge sind „Spiegel“, „FAZ“ und „Welt“ identisch/ Fahrlässig schreiben sie von „vollen Booten“ und „Chaos-Asylanten“

Ausgangspunkt meiner Überlegungen sind Fotos. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Titelseite des Spiegel vom 6. April dieses Jahres. Mit großen Lettern und rotem Balken ist der Titel „Asyl – Die Politiker versagen“ hier auf ein Foto montiert, das eine Masse von Leuten zeigt — offensichtlich sollen dies Flüchtlinge sein, im Spiegel- Text übrigens „Asylanten“. Die Flüchtlinge stürmen scheinbar ein Tor, in dem zwei, so muß man wohl sagen „vereinzelte“ Uniformierte in grenzschutzgrün stehen. Die Inschrift macht dieses Foto eindeutig zum Symbol, das heißt zu einem Bild, das gleichzeitig eben auch einen bestimmten Sinn transportiert. Ganz grob wäre der hier: Asyl bedeutet „Ansturm“, „überrannt werden“, eine Situation, in die diejenigen, die das Bild betrachten, automatisch versetzt werden. Das „Versagen der Politiker“ sind die zwei augenscheinlich machtlosen Grenzschützer, die da anscheinend hingestellt wurden, statt, wie es doch eigentlich die einzige Lösung wäre, das Tor geschlossen zu halten.

Dieses Titelbild war bereits im Spiegel vom 30. September 1991 erschienen. Durch die Bildunterschrift „Antragsteller vor der Asylstelle in Berlin-Tiergarten“ wurde hier noch die Abbildung eines realen Ereignisses betont. Der Zusatz „ungewöhnlich großzügig“ unterstreicht aber auch hier bereits das symbolische Funktionieren. Sicherlich hatte ja gerade dieser enorm symbolische Status des Fotos auch seine Auswahl als Titelblatt bestimmt. Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch fest, daß gerade für diese Verwendung nicht nur die Inschriften in das Foto hineinmontiert sind, sondern auch der einfache Verwaltungsbeamte im Bild vom September ersetzt wurde durch die zwei Grenzschützer. Diese Ersetzung ist eindeutig gelenkt durch die symbolischen Mechanismen. Zum einen wird der Blick durch die viel auffälligeren und größeren Figuren sofort auf die Diskrepanz zwischen den beiden einzelnen Personen und der „Masse“ gelenkt. Zum anderen wird gleichzeitig die Grenze assoziiert, damit wird das, was überrannt wird, eben zur BRD insgesamt. Das abgebildete Ereignis eines konkreten Zeitpunkts an einer Stelle in Berlin wird damit zum Symbol für den angeblichen „Sturm“ auf die BRD schlechthin. Das Foto wird zu einer realistischen Inszenierung dieser Symbolik, ein vorgeblich „reales“ Bild der „Überflutung“. Im Inhaltsverzeichnis wird die dazugehörige Titelstory dann auch mit der Frage angekündigt: „Ist der Asylanten- Strom noch zu stoppen?“

Auch Statistiken und Zahlen spielen für die Thematisierung der Flüchtlinge eine herausragende Rolle. Typisch für die Darstellung der Flüchtlingszahlen sind etwa Kurvendiagramme über den Entwicklungsverlauf mehrere Jahre. Haben solche Statistiken und Diagramme generell das Merkmal „Sachlichkeit“ und „Objektivität“, so gehört zu ihrer häufig betonten Anschaulichkeit aber, daß sie durch bildliche Elemente aufbereitet werden.

Ein Kurvendiagramm des Spiegel etwa vom 9. September 1991 über die Flüchtlingszahlen der Jahre 1980-91 ist unterlegt durch ein Foto, auf dem ein dichtes Gedränge von dunkelhaarigen Männern und Kindern sowie Kopftuch tragenden Frauen zu sehen ist. Am äußersten linken Rand befindet sich eine ältere Frau, durch Kleidung und Aussehen – helles modisches Kostüm, helles offenes Haar – als „westlich“ zu erkennen. Durch diese Verteilung funktionieren Foto und Zahlenkurve als Symbol. Die Flüchtlinge werden zur „Masse“, die die „Einheimischen“ an den Rand drängt, ja sogar „verdrängt“. Bereits die Zeichnung der Kurve ist dabei ihrerseits symbolisch. Automatisch ergibt sich die Konnotation der Flutsymbolik als „Überflutung“. Denn diese ragt mit der für 1991 geschätzten Zahl von 220.000 über den Rahmen hinaus und ist insofern als „rahmensprengend“ markiert.

Eine andere Grafik, aus derselben Nummer des Spiegel verbindet die Struktur eines Blockdiagramms mit zwei weiteren wichtigen Symbolkomplexen. Unter dem Titel „Breiter Strom vom Balkan“ geht es um die, wie es heißt, „Rangfolge der wichtigsten Herkunftsländer“. Flüchtlingszahlen, Ländernamen und Anerkennungsquoten sind in neun verschieden große Dreiecke, die aufgrund einer Schattenunterlegung eine räumliche Dimension erhalten, eingetragen. Mit ihren Spitzen verweisen diese kreisförmig angeordneten Dreiecke auf die ebenfalls räumlich akzentuierte Landkarte der Bundesrepublik. Verbunden mit der Flutsymbolik des Titels kann die Bundesrepublik auf diese Weise zu einer von „Fluten bedrohten Insel“ werden.

Den Hintergrund für die symbolische Verknüpfung der Zahlen und Statistiken bildet ein Symbolgebrauch, der sich, was das Thema Flüchtlinge betrifft, im Mediendiskurs des Sommers '91 insgesamt auf eine äußerst gefährliche Weise verfestigt hat.

„Schäuble: Asylantenflut stoppen“, so lautet eine fette Überschrift der Welt vom 8. August. Ein Kommentar der FAZ vom gleichen Tag ist überschrieben: „Uferlos geht es nicht.“ Solche „Fluten“ lassen sich dann auch direkt bildlich darstellen in Karikaturen. Im Juli 1991 hatte das Hamburger Abendblatt in einer Karikatur eine „Flut“ von Flüchtlingen dargestellt, die sich von Afrika aus Europa nähert. Durch den Untertitel der Karikatur wird die „Flut“ dann gleichzeitig mit einem militärischen Symbol verbunden: „Eine Armada der Armen nimmt Kurs auf die Festung Europa“.

In einer Karikatur der FAZ vom 7. August ist es nicht eine Insel, die von einer „Flut“ bedroht wird, sondern ein „Boot“ mit Namen BRD, bei dem zusätzlich die Arche des biblischen Mythos assoziiert werden kann. Genauer handelt es sich um eine „Masse“ – nur noch im Vordergrund sind Personen zu erkennen –, die mit dem Schild „Asyl“ durch eine geöffnete Klappe in das Boot „hineinflutet“. Das bereits total überfüllte „Boot“ ist dabei gleichzeitig ein „Haus“ mit „rauchendem Schornstein“, der wohl für „noch funktionierende Wirtschaft“ steht.

Der CDU-Politiker Fink äußerte laut FAZ vom 2. August die Meinung, das „Boot sei noch gar nicht voll“. Ein Artikel der Welt warnt hingegen vor dem „Chaos- Asylanten“, der sein Heil in den verbliebenen Oasen der Ordnung sucht. Natürlich ist rechnerisch „das Boot noch lange nicht voll“. Wir sind gemessen am Gros der anderen immer noch ein reiches Land. Aber Chaos und Panik können auch ein halbvolles Boot zum Kentern bringen.

Die „Flut“ wird hier gesteigert zum „Chaos“, das unsere „Ordnung“ bedroht. Insgesamt erhält gerade die Position des „vollen Boots“ noch eine zusätzliche Verstärkung. Denn das Bild vom überfüllten albanischen Flüchtlingsschiff wurde wohl zu dem meistgezeigtesten Pressefoto. Es wurde zu einem Bild für das von der „Flut“ der Flüchtlinge bedrohten „Boot“ BRD.

Im Frühjahr 1992 begann die Firma Benetton, dieses Foto flächendeckend als Werbeplakat zu nutzen. Ute Gerhard