Flucht vor Zähmung

■ Der Exil-Chilene Carlos Medina zeigt im Tacheles eine Performance über Verfolgung, Flucht und die Kolonialisierung Amerikas

Der Bühnenraum des Theatersaals im Tacheles ist in einen Käfig verwandelt. Stahlrohrkonstruktionen, die mit durchscheinender Plastikfolie bespannt sind, begrenzen die Spielfläche, deren Boden von Herbstlaub bedeckt ist. Ein unangenehmes Geräusch zerreißt die Stille: mit einem Messer wird die Hülle an einer Stelle aufgeschlitzt. Im blauen Licht erscheint ein Mann und führt die Spielfiguren herein. Merkwürdig vermummte Männer und Frauen setzen sich auf bereitstehende Stühle, erstarren im Sitzen wie Puppen, deren Aufziehmechanismus nach kurzer Zeit abgelaufen ist. Unter laut eingespielten italienischen Opernarien, die in schmetternde Walzerklänge übergehen, beginnen sie sich erneut zu bewegen.

„Leben Traum Spiel“ ist der Titel dieser an Bildern und Gleichnissen überquellenden Aufführung, die Carlos Medina mit vier Frauen und zwei Männern inszeniert hat. Sie ist Teil eines Projektes, das unter dem Thema „500 Jahre seit der Entdeckung Amerikas“ steht. Es werden so viele Geschichten erzählt, daß der Zuschauer gelegentlich den Faden verliert und gar nicht alles verfolgen kann.

Eine Frau, durch einen schwarzen Punkt auf der Stirn als Indianerin kenntlich gemacht, zieht ihre Kreise durch den Raum. Immer und immer wieder. In einem Klagegesang schreit sie ihren Haß gegen die Kolonisatoren hinaus. Um sie herum finden sich die anderen zu kurzzeitigen Beziehungen zusammen, trennen sich wieder. Von oben wird ein überdimensional großer Vogelbauer durch die Plastikdecke gestoßen und ein Mädchen darin gefangen. Verzweifelt versucht sie sich zu befreien, ihrer Zähmung zu entfliehen, aber es gelingt nicht. Ein Koffer, Zeichen für Flucht und Verfolgung, wird von den Darstellern immer wieder ins Spiel gebracht. Jeder will ihn haben, um ein Stück persönliche Habe zu retten. Es wird gekämpft, geschlagen, geliebt. Im Laufe des Abends verändert sich der Spielraum immer weiter, er wird demontiert. Die Folie reißt an vielen Stellen, Kleidungsstücke und Requisiten bleiben liegen, die totale Auflösung hat eingesetzt.

Der Regisseur Carlos Medina ist Chilene, nach dem Militärputsch mußte er sein Land verlassen. Gemeinsam mit mehreren Schauspielern des Santiagoer Laotaro-Theater fand er in der DDR Asyl. Viele seiner Kollegen verließen die DDR bald wieder in Richtung Westen, Medina blieb. Er konnte an großen Häusern arbeiten und hat im letzten Jahr sein langjähriges Vorhaben verwirklicht, eine eigene Truppe, das Ikaron-Theater, zu gründen. Während Medina in seiner vorigen Arbeit Shakespeares „Sturm“ als Grundlage nahm, verzichtete er bei seiner neuesten Produktion „Leben Traum Spiel“ auf eine Textvorlage und erzählt seine Geschichten über Improvisationen. Dabei ist ein Theaterabend entstanden, der in seiner optischen Wirkung fasziniert, vielfach aber unter Überfrachtung leidet. Medina, der aus eigener Erfahrung weiß, was Leben in der Fremde bedeutet, hat – so scheint es – alles in diesen Abend hineingepackt, was dieses Thema im weitesten Sinne streift. Er hat die drei Begriffe „Leben Traum und Spiel“ als Anregung genommen und gemeinsam mit den Schauspielern, von denen drei aus anderen Ländern kommen, eigene Assoziationen dazu auf die Bühne gebracht. Für die Leute im Zuschauerraum blieb da manches offen. Vielleicht ist die existentielle Not der Flucht letztlich eine unvermittelbare Größe. Sibylle Burkert

Weitere Vorstellungen: 18.11. und 20.–28.11. um 21 Uhr im Theatersaal des Tacheles, Oranienburger Straße