Hoch in den Bergen

■ „Das verlorene Paradies“ von David Safarian

Am Anfang ist da eine fremde, nie gekannte Ruhe. Der Atem ist zu hören und die Füße scharren auf dem felsigen Boden. Im Mondschein einer dunstigen Nacht schleppt sich ein alter Armenier durch das Tal, um für sein Dorf gebündeltes Heu von den Feldern zu stehlen. Ihr Paradies haben sie verloren, der Alte und sein Dorf. Es liegt weit hinter dem biblischen Ararat. Wer Franz Werfel [Die vierzig Tage des Musa Dagh, lesenswert! d. säzzer] gelesen hat, dem fallen blühende Obstgärten ein, und daß beinahe ein ganzes Volk 1915 — und noch einmal in den zwanziger Jahren — vertrieben und ermordet wurde. Regisseur David Safarian erzählt davon und benennt es doch mit keinem Wort.

Es gehe ihm nicht um die Frage der Schuld, erklärt der vierzigjährige Regisseur aus Eriwan. Deshalb erzähle er die Geschichte eines armenischen Dorfes, aus dem die Bewohner von ihrer Regierung vertrieben werden sollen. Vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen. Safarian gibt keine Erklärung.

„Partizak“ (kleiner Obstgarten) ist ein armes Dorf inmitten karger Felslandschaft. Es hat weder blühende Obstgärten, noch Strom und fließendes Wasser. Nur die Alten können sich noch an die Gärten ihrer verlorenen Heimat erinnern. Doch das Leid der Vertreibung ist auf allen Gesichtern zu sehen. Immer sind ihre wachsamen Augen und konzentrierten Bewegungen auch Ausdruck einer alten Angst. Ihr Mißtrauen ist groß. Im Tal hat ihnen die armenische Regierung ein neues Dorf gebaut, doch die meisten weigern sich, hinunterzuziehen. Das ärmliche „Partizak“ ist ihre Heimat, auch ohne fließendes Wasser. Vor allem aber glauben die Dorfbewohner fast instinktiv, der Berg können Schutz bieten gegen die Verfolger. Safarians Film ist jedoch keineswegs pessimistisch. Das Licht fließt auf beiden Seiten des Ararat. Und es fließt sehr klar und hell.

„Großvater, warum wird es nicht hell?“ fragt der Enkel ängstlich beim Erwachen, und der Alte erzählt von den Trauben voller Licht, die ihm sein Vater einst mitbrachte. Er werde ein Kind des Lichts sein. Doch später habe der Vater die Trauben zu Most zertreten. Ein Symbol für das Schicksal der Armenier, für den Verlust ihres Paradieses. Safarian verknüpft symbolische Bilder zu einem mystischen, märchenhaften Film. Die felsige Hügellandschaft und Zitate aus dem Alten Testament werden zu einer Einheit verwoben. Das Kloster ist zerstört und dennoch beten zwei Priester vor den Ruinen. Und als endlich die Sonne aufgeht, badet der Enkel im Licht, das durch das Fenster fällt. Safarian thematisiert die hundertjährige Vertreibung seines Volkes und versucht zugleich, sie zu revidieren. Die Staubwolken eines Wirbelsturmes ballen sich zusammen, doch sie zerstören nicht, sondern lassen ein Haus entstehen. Jene zerstörerische Energie der Vertreibung scheint hier plötzlich gebündelt in eine produktive Kraft.

Eine dieser produktiven Kräfte ist der Glaube der Dorfbewohner, sich hoch oben in den Bergen schützen zu können. Bei Franz Werfel verläßt ein Dorf seine reichen Häuser und blühenden Gärten im Tal und rettet sich ins Gebirge, auf den Musa Dagh. Und auch bei Safarian ziehen die Menschen in den letzten Sequenzen den Berg hinauf.

Safarian ist ein poetischer Film über das Schicksal seines Volkes gelungen. Daß die Darsteller eine ganz besondere Natürlichkeit vermitteln und Angst und Leid in allen Gesichtern zu spüren ist, liegt vermutlich auch an den Drehbedingungen. Denn bereits nach den ersten Drehtagen 1988 brach das große Erdbeben über Armenien herein. Einer der Hauptdarsteller verlor 39 Familienangehörige. Währenddessen hatte die ukrainische Hauptdarstellerin Yana Drouz das Atomunglück in ihrer Heimat erleben müssen.

„The Lost Paradise“ wurde zum ersten Mal dieses Jahr in Los Angeles gezeigt. In Armenien kam der Film bisher nicht zur Aufführung. Nathalie Wozniak

Das Babylon-Mitte zeigt „Das verlorene Paradies“ wieder am 19. und 24. November um 20 Uhr.