Ein Meerwunder der Erfolglosigkeit

■ Der Berliner Bohemien und Poet Peter Hille

Ein Bild von Lovis Corinth stellte den Dichter anno 1902 in altmodischem Überhang und ausgebeulter Hose dar. Wären Kleidung und Bildnis modern, es würde dem Betrachter vermutlich nicht auffallen, daß es sich um einen Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts handelt: wallender Rauschebart und struppiges Haar hätten bestens zu den revoltierenden Studenten und Hippies der 60er Jahre gepaßt.

Tatsächlich liest sich Peter Hilles Biographie wie die eines Aussteigers. Er wird, gerade achtzehnjährig, 1872 von der Schule genommen, weil er den Lehrern zu viele Schwierigkeiten macht. Ein Versuch, das Abitur in Münster nachzuholen, scheitert. Ohne Abschluß findet Hille Arbeit in der Amtsstube einer Gerichtsdeputation. Aber auch hier hält er es nur zwei Jahre aus. Absichten, in Leipzig ein Studium zu absolvieren oder sich in Bremen als Literaturkritiker einen Namen zu machen, schlagen fehl. Von 1880 an führt Hille bis zu seinem frühen Tod 1904 ein unruhiges Wanderleben, zieht mit einem Empfehlungsschreiben Gottfried Kellers, mit dem er früh Kontakt aufnahm, durch halb Europa und kann sich nur gelegentlich für kurze Zeit in der westfälischen Heimat wohlfühlen. Die letzten Lebensjahre verbringt Hille vorwiegend in Berlin, wo er Unterkunft bei seinen Freunden, den Brüdern Hart, findet. Der „Heilige St.Petrus“, wie ihn die langjährige Freundin Else Lasker-Schüler nannte — sie widmete ihm ihr „Peter-Hille-Buch“ — starb verarmt unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen. Angeblich sank er plötzlich auf einer Lichterfelder Parkbank zusammen und starb wenige Tage später im Krankenhaus.

Man hat den unkonventionellen Lebensweg Hilles, der für Detlev von Liliencron „der geistvollste Dichter der Jetztzeit“ war, als „sozialen Protest“ gedeutet und ihn als „Aussteiger um des Schreibens willen“ bezeichnet. Hilles Drang zu dichten, seine Gedanken gleich beim Entstehen festzuhalten, war offenbar tatsächlich unbezähmbar. Der Chronist der Berliner Boheme, Julius Bab, vermerkt: „Peter Hille schrieb, wo er ging, saß, stand, und auf jedes Stück Papier, bedruckt oder unbedruckt, das ihm in die Hände fiel.“

Schon zu Schulzeiten hatte er Gedichte verfaßt, später schrieb er literaturkritische Beiträge und studierte in der Londoner Bibliothek die Literatur seiner Zeit. Trotz des angehäuften Wissens und seiner außerordentlichen poetischen Ader blieb sein Wunsch, als Schriftsteller oder Zeitschriftenredakteur erfolgreich zu sein, Zeit seines Lebens unerfüllt. Seine Zeitschrift Völkermuse ging nach zwei Nummern ein, zu Lebzeiten wurde nur weniges von ihm gedruckt. Hilles Leben war den Zeitgenossen oft interessanter als seine Werke. So bildeten sich schnell Legenden um das „Meerwunder der Erfolglosigkeit“ (Hille über Hille), die man sich noch lange nach seinem Tod erzählte. Er war der dichtende Bettler, der, wenn er die Zimmermiete oder Zeche nicht zahlen konnte, in seinen stets mitgeführten Zettelsack griff und mit eigenen Werken Schuldenerlaß erbat. Er war der Mann mit dem kindlichen Gemüt, der in aller Arglosigkeit eine fünfzehnjährige Holländerin mit in die Heimat brachte, um sie zu heiraten, aber nicht bedacht hatte, daß die Gesetze dies nicht erlaubten.

„Geld“, so berichtet Stefan Zweig in seiner Autobiographie, „hatte er [Peter Hille] niemals, aber er kümmerte sich nicht um Geld, schlief bald bei diesem, bald bei jenem zu Gast, und seine Weltvergessenheit, seine absolute Ehrgeizlosigkeit hatten etwas ergreifend Echtes.“ Seine Art, Leben und Dichten zu vereinen, brachten ihm den Ruf ein, der „Prototyp des Dichters“ und „Inbegriff des Bohemiens“ zu sein. Stefan Zweig, der Hille als 20jähriger erlebte, weiter: „Man verstand eigentlich nicht, wann und wie dieser gute Waldmensch in die große Stadt Berlin geraten war, und was er hier wollte. Aber er wollte gar nichts, nicht berühmt, nicht gefeiert sein, und war doch sorgloser und freier dank seiner dichterischen Traumhaftigkeit, als ich es je später bei einem anderen Menschen gesehen.“

Im Umgang mit den eigenen Dichtungen war Hille von umwerfender Sorglosigkeit. Er beschriftete lose Hemdkragen, Bierdeckel und Papierfetzen, die er kreuz und quer am Rand und zuweilen noch einmal diagonal zu überkritzeln pflegte — um ihren Verbleib kümmerte er sich weiter nicht. Das völlige Fehlen eines Verantwortungsgefühls für seinen Nachlaß stellte die Dichterkollegen und Freunde Julius und Heinrich Hart bereits kurz nach dem Tod des Dichters 1904 vor große Probleme, als sie versuchten, die Werke in einer vierbändigen Edition der Nachwelt zu erhalten. Dieser völlig unbefriedigenden Werkausgabe hat der Literaturwissenschaftler Friedrich Kienecker nach zehnjähriger Arbeit nun eine sechsbändige Edition der Dichtungen, Essays, Briefe und Dokumente nebst einem Kommentar folgen lassen. Mit dieser Ausgabe kann der Jahrhundertwendeschriftsteller, der „König der Aphorismen“, der impressionistische Lyriker, Dramatiker und Erfinder des „Dinggedichts“ erstmals ganz entdeckt und erforscht werden.

Man hat Hille enthusiastisch mit Nietzsche, Hölderlin und Walther von der Vogelweide verglichen, hat ihn als Nachfolger Hamanns gesehen oder in die Nähe von Walt Whitman gestellt. Das ist zweifellos übertrieben. Den Vergleich mit den Dichtern der zeitgenössischen Berliner Boheme-Szene allerdings braucht Hille keineswegs zu scheuen — Dehmel, Scheerbart und Schlaf gehörten dazu. Hille war das Zentrum dieser Gruppe und gehörte zugleich zu den ersten im deutschen Sprachraum, die Kabarettabende gaben, und zwar im berühmten Ristorante „Vesuv“. Bewunderer Hilles waren Dichter wie Mühsam, René Schickele und Rainer Maria Rilke, doch dürften sie kaum mehr von ihm gekannt haben als das wenige, was er dort vorgetragen hat oder was tatsächlich publiziert vorlag. Nun aber gibt es die Möglichkeit, ihn zu lesen und wiederzuentdecken. Michael M. Schardt

Peter Hille: „Gesammelte Werke in 6 Bänden“. Herausgegeben von Friedrich Kienecker. Nur als Kassette erhältlich. Igel Verlag Literatur, Paderborn 1992. Gebunden, zusammen 2.126 Seiten, 148DM