Waldheimer Prozesse vor Gericht

In Leipzig wird seit gestern ein dunkles Kapitel gesamtdeutscher Geschichte verhandelt/ Angeklagt ist ein Ex-DDR-Richter, der in den Fünfzigern angebliche Nazis abgeurteilt haben soll  ■ Von Julia Albrecht

Leipzig (taz) – Eine einzigartige Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit stellt der Prozeß gegen den Ex-Richter Otto Jürgens, 86, dar, der gestern in Leipzig vor dem Bezirksgericht begonnen hat. Angeklagt wegen Mordes, Freiheitsberaubung und Rechtsbeugung, beleuchtet der Prozeß ein zugleich dunkles, wie auch wegweisendes Kapitel der ostdeutschen Nachkriegsgeschichte.

Angetreten als der antifaschistische Staat auf deutschem Boden, führte die DDR, genauer die SED, 1950 unter der Ägide der sowjetischen Besatzungsmacht Prozesse gegen insgesamt 3.385 hochrangige Täter, Mitläufer, Unterstützer und Unschuldige der Nazi-Diktatur. Diese sogenannten „Waldheimer Prozesse“, benannt nach einem kleinen Ort in Sachsen, nördlich von Chemnitz, fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit, ohne Verteidiger und ohne die Anhörung von Entlastungszeugen im Eilverfahren statt. Es handelte sich um Geheimprozesse unter der Regie der SED, auf die der Stalinist Walter Ulbricht zum Teil persönlich Einfluß nahm.

Die Bevölkerung erfuhr erst am 16. Juni 1950 von den Geschehnissen, als bereits 2.981 Verfahren durch Urteile abgeschlossen waren. Eines der 32 in Waldheim gesprochenen Todesurteile, dessen Akten im November 1990 im ehemaligen DDR-Innenministerium entdeckt wurden, hat die Leipziger Staatsanwaltschaft herausseziert und dem Richter Otto Jürgens zum Vorwurf gemacht. Am 6. Juni 1950 war er Beisitzer einer großen Strafkammer, die über den Staatsanwalt Heinz Rosenmüller urteilte. Weil dieser Staatsanwalt in 15 Fällen wegen Verletzung der „Volksschädigungsverordnung“ für die Todesstrafe plädiert hatte, verurteilte ihn das Gericht, dem Jürgens beisaß, zum Tode.

Bevor die Sitzung im Leipziger Bezirksgericht, an dessen Wänden noch die Schatten von Hammer und Zirkel zu erkennen sind, gestern ihren Lauf nehmen konnte, formulierte die Verteidigung, der Rechtsanwalt Karl-Heinz Lehmann und die Anwältin Dorothea Stöckchen, eine Besetzungsrüge. Daß nur zwei Berufsrichter und nicht wie nach dem Gerichtsverfassungsgesetz drei die Verhandlung führen würden, ließe den Verdacht eines Sondergerichts entstehen. Dieser Vorwurf sei um so bedeutsamer, da dem Angeklagten Jürgens selbst vorgeworfen werde, Richter der Waldheimer Prozesse gewesen zu sein, die ihrerseits eine Sondergerichtsbarkeit praktiziert haben.

Nachdem dieser Antrag von dem Vorsitzenden Richter Wolfgang Helbig als unbegründet zurückgewiesen wurde, folgte umgehend ein zweiter. Die Öffentlichkeit sei für einen Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit auszuschließen, forderten die Anwälte. Eine Begründung wollten sie allerdings nicht geben, da darin sogleich die Gründe enthalten seien, die der Öffentlichkeit gerade verborgen bleiben sollten. Diesem Antrag gab das Gericht statt. Ob damit für das weitere Verfahren die Öffentlichkeit ausgeschlossen bleiben wird, bleibt abzuwarten.

Die Waldheimer Prozesse fanden ihr Ende in einem unter ausgesuchter „Öffentlichkeit“ im Rathaus zu Waldheim inszenierten Schauprozeß gegen zehn hohe Nazi-Verbrecher, darunter KZ-Kommandeure und Kriegsgerichtsräte. Mit diesem quasi öffentlichen Prozeß sollte der Eindruck vermittelt werden, daß bei den Waldheim- Prozessen insgesamt hochrangige Nazi-Verbrecher abgeurteilt worden waren, was nach den jetzt wieder aufgefundenen Akten nicht der Fall gewesen zu sein scheint. Eher war es dem Zufall anheim gestellt, wer aus den sowjetischen Internierungslagern vor Gericht kam und wer nahtlos in dem neugegründeten antifaschistischen Staat „eine verantwortungsvolle Arbeit (in hohen Regierungsposten) leistete“, wie Walter Ulbricht 1949 lobend betonte. Der Prozeß gegen Jürgens bringt nicht nur ein Stück DDR-Geschichte ans Licht, er beleuchtet zugleich, spiegelbildlich, ein ebenso dunkles westdeutsches Nachkriegskapitel. Die Bundesrepublik hat keinen einzigen der barbarischen Richter von Hitlers Gnaden je verurteilt. Grundsätzlich mußten sich die Richter nur darauf berufen, mit bestem Wissen und Gewissen Recht angewandt zu haben, schon war der Vorwurf der Rechtsbeugung und damit auch der Vorsatz zu den spezifischen Verbrechen vom Tisch.

Zu einem Zwischenfall kam es gestern während einer Verhandlungspause in der Gerichtskantine. Der Angeklagte Jürgens wurde – vermutlich von der Tochter eines Opfers der Waldheim-Prozesse – mit heißem Kaffee begossen. Daraufhin forderten die Verteidiger stärkere Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz ihres Mandanten.