Was Kinkel in China nicht sah

Ein menschenrechtlicher Nachtrag zum China-Besuch des deutschen Außenministers Klaus Kinkel/ Politische Verfolgung Andersdenkender, Polizeiwillkür und Massenhinrichtungen  ■ Von Klaus Pan

Der deutsche Außenminister Klaus Kinkel hat sich bei seinem China-Besuch im Interesse der „Normalisierung“ der Beziehungen lieber geschäftlichen Interessen gewidmet, als die systematischen Menschenrechtsverletzungen in China zu thematisieren. Wer aber mit offenen Augen durch Chinas Provinzen reist, trifft überall auf Fälle politischer Verfolgung, auf Rechtsbeugung, willkürliche Verhaftungen und Einschränkung elementarster Grundrechte.

Da ist zum Beispiel die große Gruppe der politischen Gefangenen, die nach der Zerschlagung der Demokratiebewegung 1989 verhaftet worden waren. Allein in der Stadt Chengdu waren das nach inoffiziellen Polizeiangaben mindestens 5.000 Aktivisten. Xiao Xuehui, Professorin für Logik am Minderheiteninstitut in Chengdu, saß zwei Jahre ohne Anklage in Untersuchungshaft. „Ich wurde zusammen mit fünf anderen Frauen in eine 14 Quadratmeter kleine Zelle gesperrt, Betten gab es nicht, wir schliefen auf dem Betonboden. Es gab kein Fenster und Hofgang war uns nicht erlaubt — ich habe zwei Jahre keinen Himmel gesehen. Die Zelle war feucht und es gab wenig zu essen, so wurden alle krank. Ich litt an Gelenkrheumatismus und Lungenentzündung, aber es wurde mir nicht gestattet, den Arzt zu sehen. Meine Gesundheit ist lebenslang geschädigt. Ich war von jedem Außenkontakt abgeschnitten, durfte weder Post noch Besuche empfangen. Selbst den Schließern war es verboten worden, mit mir zu sprechen. Nach 15 bis 24 Monaten Haft haben sie fast alle Intellektuellen freigelassen. Das Ausland ist beruhigt, wenn Entlassungen bekannt werden, aber die Schikanen gehen auch nach dem Knast weiter.“

Die zierliche Mittvierzigerin hat sich geweigert, eine Selbstanklage zu schreiben, und muß dafür büßen. Xiao Xuehui hat natürlich Berufsverbot, darf ihre Universität nicht verlassen und wurde mit einem Redeverbot geknebelt. Das Parteikomitee hat für ihre totale soziale Isolierung gesorgt. Nur die Eltern kommen sie manchmal besuchen. Die 25jährige Gao Ling war seit den Ereignissen 1989 psychisch labil, ihr Vater Gao Ertai, Dozent an der Sechuan-Universität und 1989 einer der Organisatoren der Proteste, saß ein Jahr in Haft, die Mutter wurde in einem Untersuchungszentrum festgehalten. Als ihre Eltern freikamen, fuhren sie durch die Lande auf der Suche nach Arbeit, Gao Ling blieb allein zurück. Auf der Suche nach ihren Eltern traf ich sie noch Anfang Oktober zu Hause an; am 10.Oktober stürzte sie sich von einem Hochhaus.

In Nanchong wurde ein Bauernjunge zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weil er 1989 in die Provinzhauptstadt zur Teilnahme am Hungerstreik fahren wollte. Er hat nie einen Richter gesehen, die „Erziehung durch Arbeit“ wurde einfach von der lokalen Polizeibehörde angeordnet. Folglich ist auch keine Revision möglich.

Repression im Oktober weiter verschärft

Während meiner Anwesenheit an der Sechuan-Universität im Oktober fanden zweimal Hausdurchsuchungen bei Lehrern statt. Dies ist eine beliebte Einschüchterungsmethode. Im Oktober wurde die Repression im ganzen Land stark verschärft, da drei Großereignisse polizeilich abgesichert werden sollten: der Nationalfeiertag am 1.Oktober, der vorverlegte 14.Parteitag am 12., und der Besuch des japanischen Kaisers. Die Polizei führte Verhöre und präventive Verhaftungen durch, um Protestaktionen im Keim zu ersticken. Vor dem Parteitag gab es eine große Hinrichtungswelle. Am 8. und 10. Oktober zeigte das Sechuan-Fernsehen live die öffentlichen Massenexekutionen von Verurteilten, zumeist Drogenhändlern, in Sportstadien von Chengdu. Exekutionen werden sonst nicht öffentlich gezeigt. Allein in Sechuan wurden vor dem Parteitag über 100 Gefangene erschossen. Gerade die nichtpolitischen Gefangenen sind den schlimmsten Haftbedingungen ausgesetzt. Frauen berichteten mir von ständigen Vergewaltigungen durch das Wachpersonal: „Das Schlimmste war, völlig ausgeliefert zu sein. Durch die Kontaktsperre konnten die Frauen niemanden um Hilfe bitten. Wer Widerstand leistete, mußte ins 'Kleine Loch‘. Das war ein winziger, lichtloser Käfig, 1,30 Meter lang, 1,20 hoch und 60 Zentimeter breit. Dort blieb man dann tagelang eingesperrt.“

In Kanton werden Wanderarbeiter willkürlich von der Polizei verhaftet und nur gegen hohe Bestechungsgelder freigelassen. Wer nicht zahlen kann, bleibt ein Jahr im Arbeitslager. Die „Erziehungsanstalt für Prostituierte“ in Shenzhen hat sich darauf spezialisiert, Mädchen grundlos in die Anstalt zu verschleppen, um abzukassieren. Das Lösegeld beträgt 20.000 Yuan, ansonsten wird eine langjährige Arbeitshaft wegen angeblicher Prostitution verhängt. Auf diese Weise versorgen sich die Polizeiwerkstätten mit billiger Arbeitskraft. Die Arbeitszeit beträgt täglich vierzehn Stunden. Während in Verwahranstalten bei Männern Schläge, Elektroschocks und das Aufhängen an den Armen die bevorzugten Disziplinierungsmittel sind, werden in Shenzhen widerspenstige „Prostituierte“ so lange gefesselt, bis sich die abgebundenen Hände und Füße schwarz verfärben.