Am Ende nur die Einsamkeit

■ „Das verlorene Paradies“ – Szenenfolge über ein jüdisches Frauenschicksal

Eine Frau im Irrenhaus. Arme und Beine sind mit schmutzig-weißen Binden fest umwickelt, das Gesicht bleich. Riesenhaft und schwarz unterlegt die Augen, wirres schwarzes Haar, von grauen Strähnen durchzogen. Die Frau richtet sich mühsam auf, versucht zu gehen. Aber die Beine haben die Bewegung verlernt; nur unter großer Anstrengung kann sie einen Schritt tun, dann einen zweiten. Mit zitternden Händen zündet sie sich eine Zigarette an, zieht gierig den Rauch ein. Einsam und klein wirkt die Frau in diesem großen weißen Raum, wenn sie beginnt, sich an ihr Leben zu erinnern.

Die Geschichte, die ist authentisch. Ella Schliesser war die Tochter eines koscheren Fleischers im Berliner Scheunenviertel. Um dem ihr vorbestimmten Leben, in dem für Bildung kein Platz ist, zu entgehen, verläßt sie mit fünfzehn Jahren ihr Elternhaus. Sie findet Freunde, die ihr kommunistische Ideen nahebringen, steigt als Schauspielerin ins Klassenkampfkabarett „Rotes Sprachrohr“ ein und übernimmt bald dessen Leitung. Im französischen Exil wird Ella Schliesser verhaftet, von einem Gefängnis ins nächste verschleppt und 1942 nach Auschwitz deportiert. Wie durch ein Wunder überlebt sie die Hölle, aber nach einem Schlaganfall erholt sie sich nicht mehr. Sie mißtraut ihrer Umwelt, fühlt sich verfolgt. 1947, in einer psychiatrischen Klinik, verbrennt sie sich selbst in ihrem Bett.

Die Theatertruppe „Tiefenenttrümmerung“ hat in den letzten Jahren mehrmals durch Inszenierungen von sich reden gemacht, in denen sie sich mit Einzelschicksalen aus der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzte. Die beiden Leiterinnen, Peggy Lukac und Ingrid Hammer, schreiben die Szenen ihrer Stücke nach intensiver Recherche meist selbst und führen auch Regie. Auffällig ist ihre sensible Art, mit dem Material umzugehen. Von dieser Fähigkeit profitiert auch die aktuelle Produktion „Das verlorene Paradies“. Daß der Abend trotzdem in einzelne Segmente unterschiedlicher Qualität zerfällt, mag an dem wechselvollen Leben der Eva Schliesser liegen, das sich nur schwer in eine theatralische Szenenfolge pressen läßt.

Die Patientin Ella Schliesser (Uta Prelle) bleibt während der Aufführung auf der Bühne, steht oder sitzt zusammengekauert am Rand, mischt sich manchmal unter die Schauspieler. Regine Hentschel verkörpert die „kleine Elli“, das kleine dicke Mädchen, das als Kind nur heimlich Bücher lesen kann, die Sechzehnjährige, die voller Enthusiasmus die Parolen des „Roten Sprachrohrs“ hinausschreit.

Die Szenen, die von Ellas Kindheit erzählen, gründen sich auf gut geschriebene theatralische Texte und leben vor allem durch das Spiel von Peggy Lukac, die die Rolle der Mutter nach einem Unfall der ursprünglich vorgesehenen Darstellerin für die ersten zehn Vorstellungen übernahm. Der Stilisierung in diesen Szenen ist ein platter Naturalismus im Arbeiterkabarett entgegengesetzt. Rote Fahnen an langen Stangen werden von jungen Menschen vor einem leuchtend blauen Hintergrund geschwungen. Ein Vorgang, der im Publikum erst Heiterkeit auslöste und, da er nicht enden wollte, die Geschichte letztlich bremste. Spannend und bedrückend wird es erst wieder im dritten Teil. Die Schauspieler – jetzt als Privatpersonen auf der Bühne – lesen aus Briefen von Überlebenden, die Ella Schliesser aus Auschwitz kannten.

Was sich in den zwei Jahren zwischen Befreiung und Selbstmord im Leben dieser Frau abgespielt hat, ist aus der Aufführung leider nicht zu erfahren. Auch erneute Recherchen haben kein Material mehr zutage fördern können. Sibylle Burkert

„Das verlorene Paradies“; bis zum 29.11., jeweils donerstags bis sonntags 20Uhr im Ballhaus Rixdorf