Nachschlag

■ „Tätowierung“ von Dea Lohrer im Ensemble-Theater, Südstern

Er sieht aus wie der nette Mann von nebenan. Aber der bierbäuchige Graubart ist ein Wolf im rosa Hemd. Faselt bigott, bemäntelt Brutalität unter salbungsvoller Rhetorik. Dea Lohrers Drama „Tätowierung“ erzählt von Anita, einem mißbrauchten Mädchen, und ihrem Peiniger, der ihr Vater ist. Das Stück erlebte eben seine Uraufführung an einer Berliner Off-Bühne, dem Ensemble-Theater am Südstern.

Zu Beginn trügt bürgerliches Idyll: Familie Wucht am rustikalen Eßtisch beim rustikalen Mittagsmahl. Eine Bühne auf der Bühne, nach vorne angeschrägt, gibt Einblick in die beengte Welt der klassischen Kleinfamilie mit zwei Kindern. Eine Welt, die aus den Fugen ist. Der joviale Vater, Bäcker von Beruf, entpuppt sich als salbadernder Kinderschänder, als gewalttätiger Familientyrann. Die brave Mutter shampooniert Pudel in einem Hundesalon. Stumm vor Frust kratzt sie sich nervös die allergiebefallenen Unterarme blutig. Ihre Töchter nennen sie verachtungsvoll Hunde-Jule. Ursula Stampfli spielt sie als vergrämtes Jammerbild, Bühnen- und Kostümbildner Bernd Tretau steckt sie in eine Kunstfellweste, bemalt ihre Arme rot und verpaßt ihr einen Mundschutz: den Maulkorb. „Ein Hund tät ich gern sein.“ Das ist ihr Lieblingswunsch. Mutter und Töchter sind angstgelähmte Opfer der väterlichen Willkür, die als ständige Bedrohung spürbar wird. Den bösen Biedermann spielt Mathias Kunze. Eine Spur auf dieser Welt zu hinterlassen, das ist sein Lieblingswunsch. Der Akt der Vergewaltigung seiner Töchter ist für ihn deren vollständige Inbesitznahme, eine Tätowierung fürs Leben.

Die spärlich mit Requisiten ausgestattete Bühne ist dunkel, mit Spots erhellt. Mit Bedacht eingesetzt die Musik der Kindheit, Spieluhrmusik. Dem reduzierten Szenario entspricht die skelettierte, fragmentarische Sprache der Textvorlage: In Stück und Inszenierung ist es kein Wort, keine Geste zuviel. Beklemmende Dichte entsteht durch Verzicht auf ausdrückliche Realitätsnähe. Stilisierung und Reduktion von Sprache und Ambiente stehen in einem Balanceverhältnis zur schauspielerischen Vitalität des Ensembles unter der Regie von Thomas Hollaender. Die Geschichte wird theatralisch wirkungsvoll inszeniert, ohne der Gefahr der Trivialität zu erliegen.

Beim theatralischen Zugriff auf ein Thema wie dieses lauern Sozialkitsch, Weltanklage, Weinerlichkeit. Dea Lohrer umschifft diese Klippen souverän: Ihr Text ist karg, düster und einfach, die Aufführung desgleichen. Marion Löhndorf

Noch von heute bis 9. und vom 12. bis 15. November, Ensemble- Theater Südstern, Hasenheide, 20.30 Uhr