■ Die seltsame Liebe des Westens zu Gorbatschow
: Die Geschichte – das bin ich

Michail Gorbatschow weigert sich, vor dem Verfassungsgericht als Zeuge aufzutreten. Nicht, weil er das Recht in Anspruch nehmen würde, als „Täter“ die Aussage zu verweigern. Sondern weil sich das Gericht anmaße, über die Geschichte zu urteilen, weil es die Menschenrechte verletze, kurz, weil es ein verfassungswidriger Zirkus sei. Merkwürdigerweise haben diese Verfluchungen Gorbatschows hier im Westen keinerlei Empörung ausgelöst. Wohl aber die Tatsache, daß ihm Reisebeschränkungen auferlegt wurden, bis er sich bereit erkläre, vor Gericht auszusagen.

Der Prozeß gegen die Kommunistische Partei, der schon mehrere Monate unter immer schwächerer Aufmerksamkeit der Bevölkerung und des Auslandes geführt wird, ist alles andere als ein „zweites Nürnberg“. Er wurde in Gang gesetzt, weil einige Führer der ehemaligen Kommunistischen Partei gegen das Verbot der Partei durch ein Dekret Jelzins vor Gericht gezogen sind. Zu überprüfen ist nun, ob dieses Dekret verfassungswidrig ist, wie es die Kommunisten behaupten. Deshalb untersucht das Verfassungsgericht die Aktivitäten der verschiedenen Zentralkomitees der Partei, die Mechanismen seiner Beschlußfassung. Es prüft die Rolle der Partei bei der Einmischung der Sowjetunion in die Angelegenheiten anderer Staaten, die Entsendung von Truppen, die Unterstützung des internationalen Terrorismus, die Verletzung von Menschenrechten, den Mißbrauch staatlichen Eigentums und schließlich die mit dem Erwerb und der Verwendung des Parteivermögens zusammenhängenden Fragen. Geklärt werden soll, ob die KPdSU tatsächlich, wie von den Klägern behauptet, eine gesellschaftliche Organisation war oder ob sie nicht vielmehr Kern des Staates war, eine Kraft, die im Namen des Volkes ihre Macht gegen das Volk mißbrauchte.

Die Tätigkeit einzelner Personen wird nicht untersucht – weder die Lenins noch die Stalins. Man muß betonen, daß diese Form des Prozesses die einzig mögliche unter den gegebenen Umständen ist. Der Sozialismus in der UdSSR hat zu lange gewährt, zu viele Menschen unterschiedlicher Nationalität trafen kriminelle Entscheidungen. Angesichts des wachsenden Nationalismus und lokaler Bürgerkriege würde die Frage nach der individuellen Schuld zur Katastrophe führen.

Wenn Gorbatschow das Verfassungsgericht, das heutzutage fast die einzige demokratische Institution Rußlands ist, verleumdet, so ist das nur ein Versuch unter vielen, die Keime des Rechtsstaats in Rußland zu ersticken. In seiner Weigerung, sich den Fragen des Gerichts zu stellen, erscheint Gorbatschow ein weiteres Mal in der Gestalt des Generalsekretärs, für den die Gesetze nur dann von Bedeutung sind, wenn sie seine Gegner beseitigen helfen. In seiner Person kommt die traurige Wahrheit zum Ausdruck, daß der Rechtsstaat nicht auf Befehl von Oben entsteht. Er wird nur dann zur Wirklichkeit werden, wenn sich gesellschaftliches Bedürfnis nach ihm entwickelt, wenn eine bedeutende Zahl der Bürger den Rechtsstaat in eigenem Bewußtsein seiner Notwendigkeit aufbaut. Gorbatschow, dem einstigen Befürworter von Demokratie und Freiheit, ist diese Einsicht fremd geblieben. Er ahnt nicht, daß das von ihm verspottete Verfassungsgericht eben diese Freiheit ist. Eine andere gibt es nicht. Das „Gericht über die Geschichte“, das er ablehnt, offenbar, weil er sich selbst den Richterspruch vorbehalten will, ist in Wirklichkeit das eine Stück echter Demokratie. Immer noch wechselt Gorbatschow seine Rollen, mal ist er Präsident, mal Generalsekretär, mal eine bedeutende Persönlichkeit der Zeitgeschichte, einer unter den Starken dieser Welt – einer Welt, deren Anerkennung er offensichtlich viel mehr schätzt als die Achtung der eigenen Landsleute. Eine weniger auffällige, aber für die Zukunft seines Landes entscheidende Rolle weigert er sich hingegen zu spielen: die Rolle des Bürgers.

Desto erstaunlicher, daß die Starken dieser Welt Gorbatschow gegen das russische Verfassungsgericht unterstützen und sich damit in die Angelegenheiten Rußlands einmischen. Wäre es möglich, daß Kanzler Kohl sich derartige Ausfälle an die Adresse des deutschen Bundesverfassungsgerichts erlaubte? Warum muß der italienische Präsident, dessen Land sich in einer permanenten politischen und gesellschaftlichen Krise befindet, die russische Demokratie an der Ausreiseerlaubnis für Gorbatschow messen? Warum müssen die zivilen Regeln, die in Europa als selbstverständlich gelten, in bezug auf Rußland relativiert werden? Diese Fragen stehen in direktem Zusammenhang mit der Krise der politischen Klasse Europas. Gorbatschow gegen die Demokratie schützend, baut sie den eigenen Rechtsstaat noch ein Stückchen weiter ab. Angesichts der Spaltung Europas erscheint die Vetternpolitik der europäischen Verfassungspatrioten als hilfloser Versuch, einem „alten Kumpel“ symbolisch unter die Arme zu greifen und die eigene Hilflosigkeit gegenüber der neuen wirtschaftlichen und politischen Wirklichkeit des Kontinents zu verdrängen. Sonja Margolina