Bonn muß uns bereichern

■ Bundesverfassungsgericht: Freibetrag bei Lohn- und Einkommenssteuer soll künftig über dem Sozialhilfesatz liegen/ Schon ab 1993 mehr Geld/ Öffentliche Kassen verlieren 40 Milliarden

Berlin (taz) — Ab dem 1. Januar 1993 erhalten viele Bundesbürger mehr Geld. Nach den Regelungen des bisher gültigen Einkommenssteuergesetzes waren lediglich 5.616 Mark für Ledige und 11.232 Mark für Ehepaare jährlich steuerfrei. Dieser Betrag liegt weit unter dem Sozialhilfesatz, an dem sich nach Ansicht der Karlsruher Bundesverfassungsrichter der Grundfreibetrag orientieren müsse und den das Gericht für einen Ledigen zwischen 12.000 und 14.000 Mark beziffert. Entsprechend erklärten die Richter in roten Roben das geltende Einkommenssteuergesetz im Punkt des Grundfreibetrages für verfassungswidrig. In dem gestern in Karlsruhe veröffentlichten Beschluß betonte der Zweite Senat, daß das „Existenzminimum der Steuerpflichtigen“ nicht versteuert werden dürfe. Die Verfassungswidrigkeit der bisherigen Regelung begründete der Senat unter anderem damit, daß das Steuerrecht traditionell nur das verfügbare Einkommen belaste und keine „erdrosselnde Wirkung“ haben dürfe. Auch ein besonderer Finanzbedarf des Staates rechtfertige keine verfassungswidrige Besteuerung.

Dennoch erklärte das Gericht die mit dem Grundgesetz unvereinbaren Regelungen nicht für nichtig. Andernfalls hätte der Gesetzgeber alle 28 Millionen Steuerfälle der Jahre 1978-1984, 1986, 1988 und 1991 neu berechnen und gewaltige Rückzahlungen leisten müssen. Eine Rückwirkung, so die Karlsruher, würde die staatliche Finanzplanung gefährden und die staatliche Handlungsfähigkeit des Bundes bedrohen. Es genüge, wenn die erforderliche Neuregelung für die Zukunft erfolge.

Nach dem Beschluß des 2. Senats muß der Gesetzgeber die verfassungswidrigen Passagen bis zum 1. Januar 1996 neu regeln. Für die Übergangszeit ab dem 1.Januar 1993 hat das Oberste Gericht allerdings nahegelegt, den Steuerzahlern einen steuerfreien Grundfreibetrag zu belassen, der sich am Sozialhilfesatz orientiert. Für die Praxis bedeutet dies, daß alle Betroffenen bereits ab 1. Januar 1993 wesentlich bessergestellt sind als bisher.

In welcher Höhe die Entlastung erfolgen wird, hat das Gericht allerdings nicht vorgeschrieben. Die Orientierung an dem Sozialhilfebedarf für die Übergangszeit hat keine bindende Wirkung. Entsprechend gehen auch die Reaktionen auseinander. Die SPD-Finanzpolitiker Ingrid Matthäus-Maier und Joachim Preuß forderten die Anhebung des Grundfreibetrages in einem ersten Schritt auf 8.000 Mark für Ledige und 16.000 Mark für Verheiratete. Bundesfinanzminister Waigel (CDU) begrüßte die Entscheidung des Gerichts. Über die Art der Umsetzung gab er noch keine konkreten Auskünfte. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sagte, daß die Entscheidung, die für den Bund eine jährliche Mehrbelastung von rund 40 Milliarden Mark zur Folge hat, „nachteilige Auswirkungen für den Bundeshaushalt“ habe. Julia Albrecht