„Was man dort von uns erwartet, können wir nicht“

■ Drogenstrich: Ein taz-Gespräch mit dem Leiter des 3. Polizeireviers, Heinz Niemeyer, und seinem Kollegen Rolf Nierstenhöfer

Heinz Niemeyer ist als Erster Hauptkommissar seit fünf Jahren Leiter des 3. Polizeireviers. Als solcher ist er zuständig für die Polizeiarbeit im Viertel. Polizeihauptmeister Rolf Nierstenhöfer arbeitet seit 1970 im Polizeidienst im Viertel. Die taz sprach mit beiden über die Entstehung des Drogenstrichs in der Friesenstraße, über die Polizeiarbeit vor Ort in den letzten Jahren und über die Konsequenzen des Senatsbeschlusses vom letzten Dienstag.

taz: Gibt es für den Drogenstrich in der Friesenstraße eine Stunde Null, in der alles angefangen hat?

Heinz Niemeyer: Den Strich haben wir hier im Steintor schon ewig gehabt. Ich habe Unterlagen gefunden aus dem Jahr 1934, von der Helene. Aus den Kriegsjahren gibt es schon Beschwerden, daß sich die Mädchen hier nicht auf die Straße stellen sollen. Ich habe die Beschwerde eines Schlachters gefunden, aus dem Jahr 1941. Darin beschwert der sich, daß vor der Helene zu viele Ausländer stehen, die mit den Mädchen verhandeln.

Wie die Entwicklung nach dem Krieg genau verlief, läßt sich heute kaum noch rekonstruieren. Ende der sechziger Jahre ist die Situation so, daß es im Steintor mehrere Lokale gibt, die verbotene Pornofilme zeigen. Das zieht Kreise an: Wir hatten hier unter anderem ein Büro der Deutschen Sex-Partei. Zwischen Brunnenstraße und Linienstraße standen damals schon Frauen, die sich verkauften. Und das hat sich gegenseitig hochgeschaukelt: Die Männer aus den Lokalen gehen mit den Frauen, und die Frauen kommen ins Steintor, um hier die schnelle Mark zu machen.

Gab es damals Polizei-Einsätze gegen die Frauen?

Niemeyer: Mitte der siebziger Jahre nahm das überhand dort, auch schon am Ziegenmarkt, übrigens. Und 1976 hat der Innensenator die Sperrgebietsverordnung erlassen: Erst damit war klar, daß außer im Holzhafen und in der Helene die Prostitution verboten ist.

Gab es damals Bürgerproteste?

Niemeyer: Die gab es schon, aber nicht in dem Ausmaß wie heute. Damals war ja auch die bürgerlichen Vorstellungen von Ordnung noch ganz anders als heute.

Was waren das für Frauen, die 1976 in Bremen auf den Straßenstrich gingen?

Niemeyer: Das waren Frauen aus allen Bevölkerungsschichten. Insgesamt nennt das Sittenkommissariat in seinen Berichten drei Gruppen von Frauen, die sich auf dem Strich anbieten: Junge Mädchen, die hierhin kommen, um eine schnelle Mark zu machen. Eine zweite Gruppe, die als Gelegenheitsprostituierte bezeichnet werden, und auch schon ein großer Kreis von Frauen, die süchtig sind. Alkoholikerinnen, Tablettensüch

tige, in geringen Mengen auch schon Rauschgift. Geschnieft und gekokst wurde damals schon, und natürlich gab es unter diesen Frauen auch schon solche, die mit der Prostitution ihren Bedarf an Rauschgift deckten.

Rolf Nierstenhöfer: Zu dieser Zeit gab es direkt neben der Helene auch noch ein Eros-Center, da, wo heute das Stone ist. Ein richtiges Rotlicht-Gelände mit Einzelzimmern und Kontaktgarten. In der Grundstraße gab es ein Haus, daß praktisch ein Privatpuff war, im Körnerwall, Fehrfeld, Hotel Berlin in der Linienstraße: Das waren richtige Absteigen, die Zimmer vermietet haben. Der „Skandinavier- Club“, der später das „Büro“ der Deutschen Sex-Partei war: Alles Absteigen ohne Konzession.

Niemeyer: Mitte der 70er Jahre wurden die Häuser alle geschlossen. Verbotene Prostitution war ein Schließungsgrund, und den neuen Besitzern wurden strenge Auflagen gemacht. Die Mädchen wurden aus den Absteigen vertrieben, und plötzlich standen alle auf der Straße und mußten ihr Geld weiter verdienen.

War das Steintor damals schon Umschlagplatz für Drogen?

Nierstenhöfer: Als ich hier 1970 anfing, war bekannt, daß man hier in einschlägigen Lokalen auch an Rauschgift kommen konnte. Kokain war unbekannt. Aber als die Frauen plötzlich durch die Schließungen der Etablissements auf die Straße mußten, da riefen alle nach der Polizei. Und wir sind eingeschritten.

Wie sah das aus?

NiemeyerIch habe das mal aus alten Berichten zusammengetragen. Wir haben die, die beharrlich der Prostitution nachge

gangen sind, in Gewahrsam genommen, Die kamen bei uns in die Zelle und wurden bis drei, vier Uhr nachts eingesperrt. Dann konnte man sie nach Hause lassen, weil das Geschäft vorbei war. Wir haben damals jeden Tag 20, 25 Frauen in Gewahrsam gehabt.

Wieviel Frauen gab es denn damals überhaupt auf dem Strich?

Niemeyer: Das läßt sich nicht beantworten. Das Sittenkommissariat spricht von einem harten Kern von 10, 15 Frauen, die beharrlich wiederkamen. Weil wir aber mehr festgenommen hatten, müssen es auch mehr gewesen sein.

Mit welcher Begründung wurden die Frauen eingesperrt?

Niemeyer:Wegen Ausübung in der verbotenen Prostitution. Wir haben Zivilkräfte eingesetzt und die Frauen beobachten lassen. Wenn sie Männer angesprochen oder Autos angehalten hatten, haben wir sie mitgenommen. Die Männer mußten als Zeugen aussagen, und wenn sie sich weigerten, haben wir ihnen gesagt, daß wir ihnen den Vernehmungsbogen nach Hause schicken würden. Das war ihnen dann peinlich, und sie haben lieber bei uns ausgesagt. Wir hatten damals außerdem auch noch ein Abkommen mit dem Hauptgesundheitsamt, daß wir die Frauen vorführen durften nach der Verordnung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Das ist dann mit den Datenschutzbestimmungen weggefallen.

War das eine wirksame Methode?

hier bitte

die Karikatur

Niemeyer: Wir haben immer wieder vorgeführt, und die Konsequenz war, daß sich die Frauen mehr verteilt haben. Das heißt, sie gingen vom Steintor weg in die Seitenstraßen, Römerstraße, Wielandstraße, Friesenstraße. Und auch Humboldtstraße. Wir haben durch die Vorführungen und die ständigen Gewahrsam- Nahmen die Frauen ständig aus dem Verkehr gezogen und darüber den Strich gesteuert. Wenn ich abends mit einem Mannschaftswagen durch die Straße fahre und fische zehn ab, die können sich in der Nacht nicht mehr anbieten. Es konnten nur noch vereinzelte Frauen sein, die da übrig blieben, und für die Anwohner war das wenigstens erträglich. Aber dann kam das Jahr 1982, und das Bremer Amtsgericht hat uns aufgehoben.

Was heißt das?

Niemeyer: Das Amtsgericht hat entschieden, daß Gewahrsam- Nahmen zur Verhinderung der Ausübung der verbotenen Prostitution außer Verhältnis steht. Die Freiheitsbeschränkung, die sechs, sieben Stunden, in denen die Frauen bei uns saßen, stünden in keinem Verhältnis zu der Störung, die sie in der Öffentlichkeit begehen.

Welche Konsequenzen hatte diese Entscheidung?

Nierstenhöfer: So etwas spricht sich natürlich herum. Die Justiz war offenbar nicht bereit, Verstöße gegen die Ausübung der verbotenen Prostitution zu verfolgen. Dazu kam, daß die Beweisführung für uns immer schwerer wurde. Die Richter wollten immer mehr wissen: Den

genauen Wortlaut des Angebotes an die Freier, Zeugenaussagen. Es gab damals schon einen festen Freierkreis, die zu den Frauen gingen, und beide, Prostituierte und Freier, haben gesagt, daß sie verabredet sind und aufeinander gewartet haben. Die Kollegen mußten die beiden also beobachten, mit dem Wagen hinterherfahren. Dann parkten die ein, die Kollegen warten fünf Minuten und gehen dann mit der Taschenlampe und sehen, daß da Geschlechtsverkehr ausgeübt wurde. Aber dieser Arbeitsaufwand, der war nicht mehr zu bewältigen.

Und nach diesem Urteil sind immer mehr Frauen ins Viertel gekommen?

Niemeyer: Das Steintor hatte schon den Ruf, einen billigen Drogenmarkt zu haben. So etwas zieht die Abhängigen an.

Wie bekam Bremen den Ruf einer Rauschgiftstadt?

Niemeyer: Als ich hier anfing, 1987, war der Hauptstoff Cannabis. Vor dem Steintor zwischen Grundstraße und Brunnenstraße standen die Libanesen und verkauften ihr Hasch. Wenn wir mal ein Gramm Heroin hatten, dann war das ein guter Fang. Damals bekamen wir für fünf Gramm, die wir bei jemandem gefunden haben, beim Richter jederzeit einen Haftbefehl. Heute bekommen Sie für 50 Gramm keinen Haftbefehl mehr.

Dann fing das an, daß die Kurden kamen. 1987, 1988 war das. Die Libanesen wurden verdrängt mit ihrer weichen Droge, und die Kurden übernahmen den Markt. Und da gab es plötzlich eine Inflation auf dem Preismarkt. Die Leute kamen aus der ganzen Republik hierher, um Stoff zu kaufen und ihn in ihren Heimatstädten teurer weiterzuverkaufen. Das waren gute Geschäfte. Ein Viertelgramm kostete damals 25, 30 Mark, das war die Hälfte von dem, was man in Hamburg zahlen mußte. Außerdem hatten wir auch hier Schwierigkeiten. Die Justiz hat von Ameisenhandel gesprochen, wenn wir Dealer in Gewahrsam genommen haben. Die Verfahren, die sich gegen ausländische Dealer richtete, dauerten unendlich lange. Bis 1990 hatte sich der Heroinmarkt hier gigantisch vergrößert, und dann kamen die Schwarzen mit ihrem Kokain. Ich würde sagen, daß vor zwei Jahren die Situation mit all der Verelendung der Abhängigen eskaliert ist.

Woran lag das Ihrer Meinung nach konkret?

Niemeyer: Wir sind ganz gezielt von der Politik nicht unterstützt worden. Im Gegenteil. Ich erinnere noch, daß gesagt wurde: –Ihr könnt' machen was ihr wollt, aber laßt uns die Junkies am Eck.' –Die Exoten wollen wir hier behalten', hieß es, bis die Exoten so überhand genommen hatten, daß alle sie loswerden wollten. Jahrelang wurde uns gesagt, wir sollen nur die Großdealer jagen, und jetzt sollen wir gegen jeden vorgehen, der sich einen Schuß gesetzt hat und der so verelendet ist, daß er schon wieder schuldunfähig ist. Dazu kommt, daß immer mehr Drogen gemischt wurden. Heroin, Kokain, Tabletten, Methadon: Das zusammen macht die Leute aggressiv.

Jetzt haben Sie den Senatsauftrag bekommen, im Viertel aufzuräumen...

Niemeyer: Das, was man dort von uns erwartet, können wir nicht. Oder man muß über die Justiz solche diktatorischen Bestimmungen erlassen, daß ich selbst ein ungutes Gefühl bekomme. Fragen: Markus Daschner