Offenbarungseid der Justiz

Hamburgs Große Strafkammern sind  ■ dramatisch überlastet

Steht die Hamburger Justiz vor einem Abgrund? „Die Lage ist dramatisch,“ sagt jedenfalls Roland Makowka, immerhin Präsident des Hamburger Landgerichts. Die Situation an den hamburgischen Gerichten war gestern Thema der wöchentlichen Senatspressekonferenz im Rathaus. Ungewöhnlich diesmal: Justizsenatorin Lore Maria Peschel- Gutzeit (SPD) erschien in Begleitung der Spitzen der Hamburger Justiz — nicht um über Senatsbeschlüsse zu informieren, sondern um über die Zustände an den Gerichten zu berichten. Die Begleitung: der Präsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts, Helmut Plambeck; der Präsident des Landgerichts, Roland Makowka; und Generalstaatsanwalt Arno Weinert.

Landgerichtspräsident Makowka: „Der Offenbarungseid wurde schon im vergangenen Jahr geleistet, aber zu einem Konkurs darf es nicht kommen.“ Seit 1990 habe die Zahl der angeklagten Straftaten um mehr als elf Prozent zugenommen. Verfahren gegen Angeklagte, die in Untersuchungshaft sitzen, sind um rund 37 Prozent gestiegen; bei den Berufungen haben die Verfahren sogar um knapp 50 Prozent zugenommen.

Parallel dazu habe sich auch eine qualitative Veränderung der Strafverfahren vollzogen. Es würden heute wesentlich mehr Verhandlungstage benötigt werden als noch vor zwei Jahren. „Die drei neuen Großen Strafkammern, die am 1.April eingerichtet worden sind, sind allein durch diese Veränderung zur Hälfte absorbiert.“

Als Hauptursache nennt Makowka eine geänderte Polizeistrategie. Bis vor kurzem seien Dealer, die 100 bis 200 Gramm Heroin verkauften, sofort festgenommen und vor Gericht gestellt worden. Heute hingegen versuche die Polizei durch wochen- und monatelange Ermittlungen die „kriminelle Infrastruktur“ zu zerstören. Eine „sachgerechte Kriminalpolitik“, aber: „Es liegt auf der Hand, daß die aus solchen Ermittlungen resultierenden Strafverfahren sehr umfangreich und kompliziert sind.“

Gegenwärtig liegen beim Landgericht insgesamt 703 unerledigte Verfahren, was etwa dem Arbeitspensum eines Jahres entspricht. Daß diese Zahl noch zunehmen

wird, ist den Äußerungen von Ge-

neralstaatsanwalt Weinert zu ent-

nehmen. In den vergangenen zwei Jahren waren etwa zehn Prozent der Staatsanwälte in die neuen Bundesländer ausgeliehen, so daß die Zahl der Anklagen in Hamburg zurückging. „Nun sind sie wieder zurück... .“

Die Justizsenatorin sieht einen akuten Handlungsbedarf und will deshalb über den Bundesrat „vorsichtig“ die Strafprozeßordnung ändern. Unterstützung dürfte ihr sicher sein, denn auch in anderen Bundesländern kriselt es. Vom Landgericht Kiel war gestern zu hören: „Wir sind bis zum Anschlag ausgelastet.“ Norbert Müller