Vom Schmerz in Menschen und hilfreichen Sachen

Zum Beispiel Elaine Scarrys Buch über den „Körper im Schmerz“  ■ Von Katharina Rutschky

Wer morgens die Zeitung zur Hand nimmt — noch ist die Panzerung gegen den Tagesstreß nicht angelegt, die der Schlafbedürftige am Abend mit den Kleidern abgelegt hat — der hat oft nicht übel Lust, das Blatt gleich wieder sinken zu lassen. Eine prima Technik erlaubt es nicht bloß, sondern zwingt Zeitungsredaktionen jeglicher Observanz, Meldungen und Bilder von Kriegsschauplätzen und Hungerkatastrophen, von chronischem Elend und unvorstellbaren Verbrechen in den Satz zu geben, Katastrophen, die sich auf der anderen Seite des Erdballs, aber auch in unmittelbarer Nähe, wenngleich in mentaler Distanz zum idealen Leser am Kaffeetisch ereignet haben.

Immer wieder ertönt in dieser Lage der konservative Ruf nach dem Positiven, das sich doch auch unentwegt ereignet, in der Berichterstattung aber nicht berücksichtigt wird; oder man fordert eine freiwillige Selbstkontrolle bei Bildern und Texten, vor allem hinsichtlich der Kinder, die es zu schützen gilt. Andere glauben im Ernst, es mache noch einen Sinn, zwischen anständigen oder unanständigen Medien eine Entscheidung zu treffen — hier die seriöse Presse, dort die Boulevardzeitungen, da die Kanäle schmuddeliger Privathand, dort die öffentlich- rechtlichen, die das Schlimmste verhüten können, weil sie auch von unseren Gebühren, nicht bloß von den Werbeeinnahmen existieren, die ihrerseits von Einschaltquoten abhängig sind. Da beißt sich die Katze dann schon in den Schwanz, weil eben diese Quoten höher sind, überall und jederzeit, wenn Sensationen, Katastrophen und Gewaltakte aller Art gemeldet und gezeigt werden.

Was hier unübersehbar zutage tritt, ist nicht bloß die Schmutzkonkurrenz, an der sich schließlich alle beteiligen müssen, sondern ein moralisches Dilemma, in dem der anspruchsvolle und der weniger anspruchsvolle Leser und Zuschauer gleichermaßen stecken. Soll ich mich denn für alles zuständig und verantwortlich fühlen oder in den Garten gehen, ein Apfelbäumchen zu pflanzen? Unter dem Druck, als moralische Individuen fortzuexistieren, schlagen wir in der Regel eine Strategie ein, die das Dilemma nicht aufhebt, sondern perpetuiert. Wir unterscheiden Täter und Opfer, Unschuldige und Schuldige und verlangen nach Strafe, Repression und der Gewalt, die nun von den Guten ausgeht — auch wenn das am Wesen der Gewalt überhaupt nichts ändert. Haben Kolonialismus und Kapitalismus als Sortiermaschinen zum Ablegen der Guten und Bösen an Kraft verloren, so fällt die Parteilichkeit heute um so leichter, wo es um ganz elementare, noch dazu jedem vertraute soziale Beziehungen geht.

Als Frau ist meine moralische Position ganz ausgezeichnet; wird mir doch nicht nur erlaubt, sondern wird es von mir geradezu verlangt, in die Konflikte der Gegenwart mit dem Wissen einzutreten, daß 5.000 Jahre Patriarchat erst einmal abgedient und wiedergutgemacht werden müssen. Und neben der Kriminalstatistik dient die Geschichte als Feld für Klagen, Rechthaberei und Schuldzuweisungen.

Ist Aufklärung möglich? Eine, die dem verinnerlichten und zu Projektionen in die Außenwelt so fatal geeigneten Muster von Gut und Böse verhaftet bleibt und dabei die Schleichwege von Glück und Gerechtigkeit unerforscht läßt; eine, die missionarisch die zivilisatorische Bedeutung pragmatischer Resignation, des Betrachtens und Bastelns leugnet; eine, die einen prekären Individualismus zugunsten historischer (Religion, Nation, Stamm) oder elementarer Kollektive wie der Geschlechtszugehörigkeit noch einmal opfern will — eine solche Aufklärung ist zwar möglich, wie die tägliche Zeitungslektüre zeigt, sie eröffnet aber keine Perspektiven mehr.

Der unbestreitbare politische Erfolg, den einige Kampagnen feministischer Hardliner gehabt haben — als Renner hat sich dabei die sexuelle Mißhandlung von Kindern erwiesen —, ist so gesehen fatal, weil er sich den Gesetzen der Skandalisierung verdankt, einem durch und durch konservativen Mechanismus zur Bewältigung von Unrecht und Mißständen, nachweislich besonders da, wo es um Sexualität geht. Alain Corbin, der einen Beitrag zur sexuellen Gewalt in der Geschichte herausgegeben hat, erinnert daran, wie sehr die Verbindung von Sexualität mit dem Tod Unschuldiger zum großen Erfolg der Massenpresse schon im 19.Jahrhundert beigetragen hat, ohne daß es Anzeichen dafür gibt, daß diese Zurschaustellung die Verhältnisse zum Guten beeinflußt hätte. Warum sollte sie auch? Stürzt uns doch die „monströse Zurschaustellung von Begierden“ in einen „nicht beherrschbaren wie tendenziell tödlichen Schwindel“, aus dem wir unter Umständen selbst nur wieder in Monster und Exekutoren des Bösen verwandelt auftauchen können.

Es ist nur logisch, wenn Andrea Dworkin in ihrem letzten, nun übersetzt vorliegenden Roman, einer unendlich scheinenden, vollkommen monotonen Gewalt- und Vergewaltigungsphantasie von vielen hundert Seiten, auf dem Papier der Literatur den Frauenweg zum Mord weist. Wer sich der Mühe unterzogen hat, das Gesamtwerk der amerikanischen Schriftstellerin zu lesen, kann nicht anders, als ihre polemische Verve bewundern und vor allem über die Kraft staunen, mit der sie ihren zwei Obsessionen treu bleibt: dem Schreiben überhaupt und als zweites dem Schreiben über immer wieder dasselbe. Darin ist sie, ein weiblicher de Sade, durchaus dem „göttlichen Marquis“ vergleichbar, der, lange nach seinem Tode allerdings, so viele faszinierte Interpreten gefunden hat. Von Beauvoir über Barthes zu Angela Carter nehmen sie uns schützend an die Hand, lehren uns, die Lektüre auszuhalten und eine Bedeutung zu erkennen, die uns Abscheu und Langeweile der seltsamsten Art beim unmittelbaren Zugriff auf den Text verstellt haben. Dworkin gleicht auch darin de Sade, daß sie aus einer vollkommenen Isolation und Einsamkeit heraus spricht: Es ist nicht nur so, daß zwischen Männern und Frauen keine andere als eine Gewaltbeziehung hergestellt werden kann; auch der Faden zwischen den Frauen ist längst gerissen, wenn es ihn denn je gegeben hat. In Analogie zu Beauvoirs Sade-Interpretation könnte man weiter vermuten, daß der nicht grundlose, aber maßlose Haß die letzte Rettung derer ist, die sonst gar kein Gefühl mehr haben; und die Vergewaltigung einem Katastrophentraining in Eis und Feuer angeglichen ist, das Frauen absolvieren müssen, wenn sie nicht untergehen wollen. Mit hörbarem Stolz und Selbstbewußtsein bezeichnen sich manche als „Überlebende“, mit dem qualifizierenden Zusatz „rape“ oder „incest“. Dabei wird geltend gemacht, daß durch solche öffentlichen Bekenntnisse und sorgfältigen Bezeichnungen die den Frauen zugefallene Opferrolle zurückgewiesen, der Schmerz in Stärke verwandelt werden kann.

Einerseits kommt einem der Gedanke bekannt vor, andererseits meldet sich der Einwand, daß die Überlebenden der Shoah — und ausnahmslos jene, die das KZ überstanden haben — von dieser Verwandlung nichts berichten. Im Gegenteil, sie werden von der Schuld gepeinigt, nicht auch tot zu sein, wie ihre Eltern, Kinder, Freunde. Ich trage am Rande nach, daß Dworkin in ihrem Roman zum ersten Mal der Versuchung unterliegt, das KZ in ihre Obsession einzubauen, als ob die pornographischen Bilder und Filme, die sonst durch den Text scheinen, nicht wirklich genug wären; und bei aller Zeitlosigkeit doch historisch akzentuiert werden müßten.

Bekannt ist die Verachtung des Schmerzes, gerade des Körperschmerzes aus einem Essay, den Ernst Jünger Anfang der dreißiger Jahre geschrieben hat. Die bürgerliche Kultur der Empfindsamkeit mit der ängstlichen Sorge um den Körper und seine jeweiligen Zustände hat es gegeben, wie die Forscher auf dem Gebiet der Mentalitäten inzwischen auch mit wissenschaftlicher Akribie nachgewiesen haben. Müssen wir uns aber deshalb mit Vorstellungen und Konzepten wie denen der erwähnten feministischen Speerspitzen oder eben denen des frühen Jünger abfinden und gar befreunden, Konzepten, die den menschlichen Körper erst jenseits des Schmerzes als unangreifbaren Außenposten für höhere Zwecke sehen?

Elaine Scarry, die amerikanische Literaturwissenschaftlerin, die ihre Disziplin mit aufregendem anthropologischem und politischem Interesse betreibt, scheint Jüngers Essay nicht zu kennen. An ihrem großartigen Entwurf über den „Körper in Schmerz“ — nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, durch die jüdische und christliche Tradition hindurch, mit Marx und Freud und versehen mit allem, was avancierte Wissenschaft zu bieten hat, Ursprung und Grundlagen unserer westlichen Zivilisation zu ergründen, und, was am allererstaunlichsten ist, zu preisen —, an diesem Versuch hätte sie wohl trotzdem keine Zeile geändert. Vielleicht kann eine so mutige, dabei ganz unprätentiöse und lebenszugewandte Autorin ohne jede Spur von Ironie und kritischer Bosheit nur in den Vereinigten Staaten gedeihen. Beim Lesen dieser langen und unermüdlich fortschreitenden Analyse teilt sich einem etwas mit von der Entschlußkraft und der Hoffnung jener Generationen von Auswanderern, die jenseits des Meeres ihr persönliches Glück suchten, aber auch an die Möglichkeit — Pardon — eines neuen Jerusalem dachten.

Warum eigentlich nicht? Bei uns gedeihen ja vornehmlich Propheten des Untergangs und Künder der Katastrophen, wobei ihre eigene Mitarbeit bescheiden immer draußen vor bleibt. Waltraud Schoppe zum Beispiel beklagte kürzlich die konzeptuelle Unproduktivität der Frauenbewegung, die ihre Freude an Frauenpolitik jedenfalls sehr geschmälert habe. Die Lesbenfrage und der Entschluß, vorgeblich sexuelle Tabus zu brechen und in Verwaltungsrituale zu überführen — das ist eben doch zuwenig. Ein Beispiel von männlicher Seite mag jetzt meine feminismuskritische Schlagseite etwas ausgleichen. Unter dem Bild von Peter Sloterdijk fand sich kürzlich der wundersame Satz zitiert: „Die Welt stirbt in einen anderen Zustand hinüber.“ Natürlich ist der aus dem Zusammenhang gerissen, aber könnte man aus dem ganzen, fast 600 Seiten dicken Buch von Elaine Scarry einen einzigen Satz herausreißen, der so albern ist? So — zum zweiten Mal Pardon — verantwortungslos wie überflüssig?

Nein, ich riskiere es, in meinem Enthusiasmus von Theologen, Soziologen, Marxkennern und anderen Experten, die noch genug an Scarrys Buch zu bemängeln haben werden, gründlich ernüchtert zu werden. Scarrys winziger Ausgangspunkt ist die Beobachtung, daß der Schmerz im Körper ist und nur mit etwas ausgedrückt werden kann, das außerhalb des Körpers ist: „Mir ist, als ob mich tausend Nadeln stächen.“ Die nächste Einsicht scheint ebenso einfach: Der Schmerz hat nur für den Evidenz, der ihn empfindet. Drittens: Der Schmerz soll aufhören. Der strikt verfolgte Gedanke des individuellen Körpers und seines Schmerzes führt zu den Dingen, die ihn nicht nur metaphorisch darstellen können, sondern ihn buchstäblich übernehmen: Wer lange in der Hocke hat sitzen müssen, weiß den Stuhl zu schätzen. Die Kultur, oder besser, die Zivilisation, ist ein Zustand voller hilfreicher Dinge. Es ist wunderbar zu lesen, wie Scarry an späterer Stelle die Produkthaftung der Hersteller und die damit zusammenhängende Prozeßfreudigkeit der Amerikaner erklärt. Der Animismus ist, so gesehen, kein archaisches Relikt; die Tür, die nicht hält, was sie verspricht, wird bestraft — auf Umwegen.

Ein großer Abschnitt ist dem Krieg gewidmet und seiner Unersetzbarkeit durch andere Weisen definitiven Wettbewerbs, aber auch der merkwürdigen Tatsache, wie er in seiner Essenz, als körperlicher Akt des Tötens und Schmerzzufügens, seit je geleugnet wird, nicht erst seit der Erfindung des optisch inszenierten Fernsehkrieges. Die Menge der überraschenden Einsichten, die sich Scarrys phänomenologischem Insistieren verdanken, ist groß und kann hier wieder nur mit einem Beispiel angedeutet werden: Wie sonderbar, daß nach dem amerikanischen Bürgerkrieg die Toten auf beiden Seiten für ein und dieselbe Sache gestorben sein sollen. Es handelt sich bloß um Darstellungsprobleme der siegreichen, der überlebenden Seite.

Mag der Glaube an den Krieg für eine richtige Sache noch nicht ausgestorben sein, so ist die Folter überall heimlich, weil sie allgemein verabscheut wird. Hier kann Scarry ihre Philosophie von der Entstehung der Zivilisation am schlagendsten entwickeln, weil in der Folterszene eben diese Zivilisation demonstrativ zerlegt und zerstört wird. Nicht Verrat ist das Ziel der grausamen Prozedur, sondern die Beraubung, die Entblößung des Gefolterten auch noch vom kleinsten und unbedeutendsten Artefakt, das dem Schmerz im Körper ein entlastendes Außen sein könnte. Die Macht des Folterers, der selbst keinen Körper und keinen Schmerz hat, erwächst aus dem demonstrativen Akt, in dem sein Opfer mit ihm ausweglos zusammengesperrt wird. Psychologische Überlegungen und staunende Ausrufe, wie denn so etwas im Einzelfall möglich sei, erübrigen sich bei dieser Art von rationeller Analyse. Der Folterer bezieht die Position des Gottes im Alten Testament, der ebenfalls keinen Körper und keinen Schmerz hat, nur aus einer Stimme besteht, die sich in Willkür, Launen und Befehlen ergeht. In Scarrys Sicht gewinnt das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, einen ganz neuen Sinn, und man freut sich wirklich, daß Adam und Eva, als die Stimme des Herrn sie zum abschließenden Urteilsempfang herbeizitiert, wenigstens so gescheit sind, ihren nackten, preisgegebenen Körper mit einem Schurz zu bedecken. Gesehen werden, gar nackt, und nicht selbst zu sehen, gehört schließlich schon zum schlichten Programm des Folterns.

Aus Alain Corbins Vorwort zu einem Sammelband mit Fallstudien französischer und amerikanischer Historiker habe ich eingangs schon zitiert. Sie behandeln unter anderem die Vorgänge um die Vergewaltigung eines zwölfjährigen Mädchens durch einen 19jährigen Kaufmann in Rennes Mitte des 15.Jahrhunderts. Wie hier, so sind „Schönheit, Schwäche und Jugend“, eins davon oder alle drei, Merkmal des Opfers, das der psychischen und sozialen Macht des Mannes unterliegt, auch dort, wo er unter Umständen selbst ein armes Luder ist. Anne-Marie Sohn führt den Leser in ihrer Studie über „Unzüchtige Handlungen an Mädchen und alltägliche Sexualität in Frankreich 1870-1939“ bis in die Gegenwart. Da taucht u.a. auch ein 24jähriger Landarbeiter auf, der ein Mädchen in einen Busch geschleppt hat, weil er endlich einmal sehen wollte, wie ein weibliches Genitale aussieht! Ich erwähne das Detail, weil es Licht wirft auf etwas, was in den zwanziger Jahren pathetisch mit „Sexualnot“ benannt wurde — ein Zustand, der kriminellen Handlungen ganz ebenso Vorschub leisten kann, wie der Hunger und die Kälte —, und nicht, weil ich zuviel Verständnis für die Gegenseite aufbringe...

Wer jetzt noch Fragen zu „Sexualität und Gewalt“, zu Sadismus, Masochismus, weiteren Perversionen sowie Orgien, Satanssekten und Gewalt in der Ehe und vielem anderen mehr hat, sei auf das Buch von Reiner Gödtel verwiesen. Ich kann nur hoffen, daß dieser Gynäkologe, Gerichtsgutachter und nunmehrige Buchautor vor Ort mehr Überblick bewiesen und Gutes bewirkt hat, als jetzt hier. Ich zitiere wiederum ungerecht aus dem Zusammenhang, aber wörtlich: „Bei den Griechen und Römern war die Vergewaltigung vermutlich relativ selten. Gewalthandlungen kamen offenbar dank der natürlichen Lebensführung und der Freude am schönen Körper kaum vor. Ihren Göttern allerdings unterstellten sie nicht selten solche Taten.“

Stimmt es also gar nicht, wie es anderswo unter Berufung auf Arnold Gehlen heißt, daß der Mensch ein riskiertes Wesen ist? Sind es die Götter? Fastfood für den kleinen Meinungshunger zwischendurch — an sich ja eine pfiffige Idee des Verlags — ist eben doch „vermutlich relativ“ ungesund.

Andrea Dworkin: „Erbarmen“. Aus dem Amerikanischen von Christel Dormagen. Klein-Verlag 1992, 381 S., 48 DM.

Elaine Scarry: „Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur“. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. S. Fischer 1992, 576 S., 78DM.

Alain Corbin (Hrsg.): „Die sexuelle Gewalt in der Geschichte“. Wagenbach 1992, 157 S., 19,80DM.

Reiner Gödtel: „Sexualität und Gewalt“. Hoffmann und Campe 1992, 300 S., 39DM.