documenta 9 — Spot 5

■ Charles Ray — Ein egomaner Seufzer

Spot ist eine taz-Serie zu einzelnen Arbeiten oder KünstlerIinnen auf der documenta 9 in Kassel. Bis zum 20.September

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat den schönsten Körper im ganzen Land? Ist es der bucklige Arnold Bode oder der hagere Joseph Beuys oder der drahtige Jan Hoet? Nein. Ihre Wachsfiguren, von Guillaume Bijl in einem Schaufenster nahe dem Fridericianum ausgegestellt, scheiden, weil bekleidet, aus dem Rennen. Ist es Attila Richard Lukacs, der die Innenwände eines Pissoirs in der Karlsaue mit nackten, glatzköpfigen Männern bemalte? Falsch. Lukacs' Vision des Ariers als Skinhead hat Breker besser gemeißelt.

Den schönsten Körer auf der ganzen documenta besitzt der amerikanische Künstler Charles Ray. Er ist weder athletisch noch pygmäisch. Hat kein überragendes Genital, neigt zur Fettleibigkeit und die Haare benötigten einen neuen Schnitt. Warum dieser Brillenträger dennoch den Schönheitswettbewerb gewinnt: Er, der Körper, ist jeweils ein anderer. Ray ließ gleich acht Abgüsse seines Körpers in verschiedenen Stellungen anfertigen und arrangierte sie zu einem Reigen sexueller Spielchen. Liegend, stehend und knieend, Rolle vorwärts und rückwärts. Die Plastikpuppen üben Oral- und Analverkehr mit sich selbst. Füße werden geküßt, Zehen gekiztelt. Gruppensex als Allegorie des Narzißmus. Die Kunst als Selbstbefriedigung des Künstlers.

Der Körper hat in der amerikanischen Skulptur eine starke Tradition. Er ist Memento mori bei George Segal, verharrt in nackter Melanchaloie bei Andrea de Maria, fügt sich bei Duane Hanson seinem Schicksal. Und Bruce Nauman entlockt ihm erotische Energien.

Anders Charles Ray. Es geht ihm weder um Existenzfragen noch um Sex. Schon gar nicht um Skulptur. Hier kommt der Körper nicht zur Form und nicht zur Ruhe, sondern ist Anschauungsmaterial einer never ending story vom Künstler und seiner Schaffenskrise. Dafür opfert Ray seine Intimsphäre und trägt seine Haut zu Markte.

Man mag nicht einmal darüber streiten, ob Charles Rays Genital erigiert ist oder nicht, oder noch nicht ganz. Es provoziert niemanden und würde, als Einzel-Installation irgendwo ausgestellt, ein anerkennendes Gähnen hervorrufen. Nicht so in Kassel.

Er, der Körper, ist ein anderer. Charles Ray illustriert den von Hoet ausgerufenen Leitbegriff für die documenta 9: Körperlichkeit. Der intellektuelle Begründungsverzicht zugunsten eines egomanen Seufzers ist im multiplen Ray personalisiert. Er ist der Mini-Körper der documenta. In seinen Augen lesen wir den Werbeslogan Jan Hoets für die West-Zigarette: „Kunst heute bietet keine klaren Antworten. Nur Fragen.“ Marius Babias