GASTKOMMENTAR
: Der Brand in Abchasien droht auch auf Rußland überzugreifen

■ Georgiens Präsident will russische Fallschirmjäger in die Unruheregion im Westen der Republik schicken. Am Wochenende wurden in Abchasien 25 Menschen getötet

Eine Entsendung russischer Truppen nach Abchasien wird den Brand auch an der russischen Südgrenze entfachen. Das Argument, die Russen bräuchten Schutz, ist in der gegenwärtigen Situation noch fadenscheinig; sie sind bislang gar nicht angegriffen worden. In der Hoffnung, sich selbst zu stabilisieren, kommt die russische Regierung offenbar ihrer patriotischen Opposition entgegen. Die nicht allzu rationale russische Innenpolitik greift damit in eine Region über, die von zwei ebenfalls kaum noch kontrollierbaren Konfliktkonstellationen beherrscht wird.

Die eine betrifft das Verhältnis Abchasiens zu Georgien. Die zu Georgien gehörige ehemalige autonome Sowjetrepublik mit einer Bevölkerung von etwa 552.000 Menschen hatte sich im Juli dieses Jahres für unabhängig erklärt. Die Regierung Schewardnadse reagierte besonnen, obwohl Abchasien seit Jahren eine kriegsträchtige Region ist. 1922 war es eine eigene Sowjetrepublik, 1930 kam es an Georgien. Die 93.000 Abchasen entsprechen 18 Prozent der Bevölkerung; 46 Prozent aber sind Georgier; zusammen 16 Prozent sind Russen und Ukrainer. Die Furcht vor georgischer Überfremdung ist groß angesichts dieser Bevölkerungsanteile unter den Abchasen. Die Georgier hingegen haben immer dazu tendiert, Abchasien als integralen Bestandteil ihres Landes zu sehen und die Abchasen im besten Falle mit väterlichem Wohlwollen zu behandeln. Schon in kommunistischer Zeit war es daher das Bestreben der abchasischen Vertreter, sich von Georgien zu lösen. In der Auflösungsphase des Imperiums waren sie prosowjetisch eingestellt. Seit 1989 forderten sie entweder die Unabhängigkeit oder die Angliederung an Rußland. Schon damals war es zu heftigen Demonstrationen in Tbilissi und zu abchasisch-georgischen Schießereien in Suchumi gekommen. Wie andere ethnische Minderheiten in den nichtrussischen Republiken erwarteten auch die Abchasen vom multinationalen Imperium mehr Sicherheit als von den neuen Nationalstaaten. Wie üblich — und nicht ganz zu Unrecht — vermuteten im Gegenzug die Nationalbewegungen der Republiken hinter den Autonomiebestrebungen die verschwörerische Hand Moskaus.

Die abchasische Befürchtung, daß der ganz anders begründete georgische Einmarsch mit der abchasischen Bewegung aufräumen solle, ist entsprechend nicht ganz von der Hand zu weisen. Schewardnadse kann versucht sein, die Aktion gegen die Entführer des georgischen Innenministers auszunutzen. Die Beseitigung eines separatistischen Unruheherdes könnte ihm helfen, den georgischen Nationalismus zumindest teilweise in Unterstützung für ihn zu verwandeln.

Von dem Konflikt um Abchasien ist aber der innergeorgische Konflikt zu unterscheiden. Abchasien ist hier eher als Grenzgebiet zum Mingrelien wichtig, aus dem der gestürzte Diktator Gamsachurdia stammt und wo er noch immer seine treueste Anhängerschaft hat. In Tbilissi, unweit der abchasischen Grenze, war Schewardnadse kürzlich sehr unfreundlich empfangen worden. Diejenigen, die den georgischen Innenminister Gwenzadse und andere entführt hatten, sind alles andere als abchasische Separatisten.

In dieser Situation aber ist der Einsatz militärischer Gewalt auch auf georgischer Seite riskant. Es gehört zu den wesentlichen Erfahrungen der letzten Jahre, daß überall, wo das staatliche Gewaltmonopol zusammenbricht, Banden bewaffneter junger Männer beginnen, sich nicht nur wechselseitig, sondern auch die hilflose Bevölkerung abzuschlachten und alles zu zerstören, was bis dahin noch halbwegs funktionierte. In Georgien ähneln nicht nur die bewaffneten Anhänger Gamsachurdias, sondern auch die offizielle Nationalgarde von Tengis Kitwani oder die „Mchedrioni“ von Dschaba Iosseliani eher Räuberbanden als disziplinierten Armeen. Wie wenig die Regierung zu melden hat, wie autonom die Banden agieren, zeigt sich am Spiel mit dem gebrochenen Waffenstillstand. Es enthüllt die ganze Hilflosigkeit der angeblich Regierenden.

Auch Abchasien beginnt damit jene historische Erfahrung wiederzubeleben, die im Europa nach drei Jahrhunderten verlorengegangen war: daß nicht nur die Staatsmacht mörderisch sein kann, sondern daß auch ihr Zusammenbruch einen Preis hat. Wie in Bosnien oder in mehreren Ländern Afrikas wiederholt sich jener Typus von Massakern, den Deutschland zum Beispiel im Dreißigjährigen Krieg erlebte. Das Resultat kann nur Elend und der Verlust jeder noch so bescheidenen Hoffnung sein. Die Entsendung russischer Truppen wird die chaotische Auflösung auch nach Rußland bringen. In Transnistrien stehen schließlich die russischen national-patriotischen Mörderbanden längst auf Posten. Erhard Stölting

Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin