Dubrovnik — ein Gedicht in Stein

Während in Bosnien der Krieg tobt, setzt sich die süddalmatische Hafenstadt mit seinen Folgen auseinander. Serbische Artilleriegeschosse haben zahlreiche Wunden im mittelalterlichen Stadtkern hinterlassen. Im Umland von Dubrovnik sind viele Dörfer völlig zerstört.  ■ Aus Dubrovnik Thomas Schmid

Perle der Adria. Gedicht in Stein. Zwei Metaphern für Dubrovnik, die Hafenstadt an der dalmatischen Küste. Erst jetzt scheinen sie zu stimmen. Erst jetzt, wo der Lärm von Tausenden Touristen ausgeblieben ist, ruht die Stadt in ihrem Gemäuer gleich einer Perle in ihrer Muschel. Erst jetzt ist die Stille eingekehrt, die den Gedanken an ein Gedicht überhaupt aufkommen lassen kann. Während in Bosnien der Krieg tobt, sieht sich Dubrovnik, die Stadt im äußersten Süden Kroatiens, mit dessen Folgen konfrontiert.

Seit zehn Tagen schon sind keine Granaten mehr auf die Stadt gefallen. Ab und zu hört man noch Schüsse. Aber der Krieg scheint hier vorbei zu sein. Die Serben und Montenegriner haben ihre Stellungen nördlich von Dubrovnik schon Ende Mai aufgegeben und sich auch im Süden vom Stadtrand etwa zehn Kilometer Richtung Montenegro zurückgezogen. Sie halten hier nur noch einen knapp 20 Kilometer langen Küstenstreifen Kroatiens besetzt, auf dem auch der Flughafen von Dubrovnik liegt.

Das Schlimmste sei die Blockade gewesen, erzählen sie hier alle. Mit Grauen erinnern sie sich an die letzten drei Monate des vergangenen Jahres, als es keine Elektrizität, keine Telefonverbindungen und kaum mehr Trinkwasser und Nahrung gab und als die Stadt von den Bergen und von der Seeseite her beschossen wurde. Aber auch in diesem Sommer wurde Dubrovnik immer wieder von schwerer Artillerie unter Feuer genommen, zum letzten Mal am 26.Juli. Allein in der von hohen Wällen umgebenen historische Altstadt, die von der Unesco auf die Liste besonders schützenswerter Weltkulturgüter gesetzt wurde, sind nach Angaben der kroatischen Regierung 1.500 Geschosse eingeschlagen.

Die Wunden in der historischen Altstadt

Im „Institut für den Schutz von Kulturdenkmälern“ sind die Schäden minutiös aufgelistet. Von den 824 Gebäuden innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern sind demnach neun völlig zerstört und ausgebrannt, 92 haben größere Schäden davongetragen, oft durch einen Granateinschuß ins Dach, 362 Gebäude sind leicht betroffen — in der Regel durch Gewehreinschüsse oder Splitterfragmente, die Fensterscheiben, Dachziegel oder das Mauerwerk beschädigt haben.

Beim Augenschein vor Ort relativieren sich die nackten Zahlen. Der Schaden hält sich in Grenzen. Nur weniges ist unwiederbringlich verloren. Das allermeiste kann repariert werden. Allerdings gibt es viel zu tun. Im Franziskanerkloster, das aus dem 14.Jahrhundert stammt, hat eine Granate hoch oben einen Tunnel quer durch den Kirchturm gebohrt. Im Uhrturm, wo zwei oxydierte Kupfersoldaten jede Stunde gegen die alte Glocke klöppeln — die „grünen Männer“ sind das Wahrzeichen der Stadt —, hat ein Geschoß das Dach aufgerissen. Die Steinskulpturen am Großen Onofrio-Brunnen aus dem 17. Jahrhundert, benannt nach Onofrio della Cava, der ein elf Kilometer langes Aquäduktsystem zur Versorgung der Stadt mit frischem Bergwasser baute, wurden stark beschädigt. Im Dominikanerkloster wurden zahlreiche Kunstgegenstände, deren Wert niemand zu schätzen vermag, ein Raub der Flammen. Auch die katholische Kathedrale, die orthodoxe Kirche, die Moschee und die Synagoge wurden getroffen. Und auf der Placa, der Hauptstraße, die die Altstadt teilt, sieht man noch deutlich, wo die Granaten eingeschlagen sind.

Der zweite Sommer ohne fremde Gäste

Inzwischen versucht sich die Stadt so gut zu schützen, wie es eben geht. Die Barockfassaden diverser Kirchen stecken hinter einer Holzverschalung. Auch der Onofrio-Brunnen und die Roland-Säule wurden verpackt. Wo einst Schaufenster waren, trifft man nun auf Holzverschläge. Von den Hunderten kleinen Läden an der Placa und in ihren Nebengassen ist gerade ein Dutzend noch offen. Die knapp 5.000 Einwohner der Altstadt versorgen sich auf dem kleinen Markt unterhalb der Kathedrale. Dort beschränkt sich das Angebot auf Zwiebeln, Paprika, Auberginen, Kartoffeln und Tomaten. Die Restaurants sind ausnahmslos alle geschlossen. Während sonst in der Hochsaison täglich 55.000 Touristen in Dubrovnik und Umgebung — viele in Privatquartieren — nächtigten, ist in diesem Jahr noch kein einziger gekommen. Die ersten beiden werden morgen erwartet: zwei Belgier, die seit 30 Jahren ihren Urlaub hier verbringen.

Schon der zweite Sommer ohne Touristen. Die Konsequenzen sind fatal. 70 Prozent der Einwohner des Bezirks Dubrovnik sind direkt vom Geschäft mit den Fremden abhängig. Sie haben nun keine Einkünfte mehr, zahlen also keine Steuern, und so ist das Budget der Stadtverwaltung auf fünf Prozent des normalen Haushaltsvolumen geschrumpft — von umgerechnet 40 Millionen Mark 1990 auf zwei Millionen 1992. Und natürlich bräuchten die Stadtherren heute mehr Geld denn je. Wasser- und Stromleitungen, Straßen und öffentliche Gebäude bedürfen der Reparatur.

„Vier Fünftel des Fahrzeugparks an öffentlichen Verkehrsmitteln wurden im Krieg zerstört“, sagt Stadtpräsident Zeljko Sikic, ein Mann, der zupacken möchte, aber kein Geld hat, „und das letzte Fünftel muß auch noch die Leute befördern, die früher in den nun 8.000 fahruntüchtig geschossenen Privatautos fuhren.“ Von den sechs Baggern der Stadtverwaltung haben die serbisch- montenegrinischen Truppen die Hälfte gestohlen, die andere Hälfte leistet jetzt doppelte Arbeit, vor allem bei der Beseitigung von Ruinen. Von 20 Feuerwehrwagen sind noch sechs einsatzfähig, und in den letzten drei Monaten hat die serbische Artillerie die Stadt immer wieder mit Brandbomben beschossen. „Zwei Feuerwehrwagen haben wir nach Zagreb in Reparatur gegeben, aber die kriegen wir erst zurück, wenn wir die Rechnung bezahlt haben“, klagt Sikic.

Jeder Fünfte ist Flüchtling

Früher hätten 500 Angestellte der Stadtverwaltung pro Kopf umgerechnet 1.500 Mark monatlich verdient, rechnet der Stadtpräsident vor, heute sind es noch 300 Angestellte, die am Monatsende 80 Mark nach Hause tragen. Zusagen finanzieller Hilfe habe die Stadt eine ganze Reihe erhalten, doch eingetroffen sei nichts. Auch die Unesco, deren Flagge über den Türmen der Stadt weht, habe Hilfe versprochen, die nicht eingetroffen sei: 40.000 Dollar — „peanuts“, wie Sikic bitter kommentiert. — Doch die Folgen des Krieges sind nicht nur beschädigte Kirchen, zerstörte Feuerwehrwagen und ein mageres Budget, sondern vor allem entwurzelte Menschen. Allein in Dubrovnik, das 51.000 Einwohner zählt, leben zur Zeit 13.169 Flüchtlinge, die allermeisten aus dem von einer serbisch-montenegrinischen Soldateska zerstörten Umland der Stadt, aber auch 759 Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina. Die großen Hotelkomplexe auf der zur Stadt gehörenden Halbinsel Babin Kuk sind voller als in jeder touristischen Hochsaison. 1.038 Flüchtlinge sind im Hotel „Plakir“ untergekommen, 860 im „Argosy“, 420 im „Kompass“, um nur die größten zu nennen. Im Hotel Kompass, das unter den Angriffen der serbischen Artillerie sichtlich gelitten hat, ist das Büro von Pavo Handabaka. Er ist der örtliche Verantwortliche der staatlichen Flüchtlingsbehörde und für die Registrierung der Flüchtlinge, die Verteilung der Lebensmittel und auch für die Entschädigung der Hoteladministration zuständig. Die erhält für jeden Flüchtling umgerechnet fünfeinhalb Mark pro Tag. Es ist läppisch wenig, aber mehr als nichts in diesen Zeiten. Privatpersonen, die Flüchtlinge aufnehmen — in Dubrovnik sind es über 2.300 — erhalten pro Tag umgerechnet 60 Pfennig.

Pavo Handabaka ist nicht irgendein Funktionär, der für diese Arbeit abkommandiert wurde, das Elend verwaltet und nach Büroschluß nach Hause geht. Sein Zuhause ist das Hotel Kompass. Er ist selber Flüchtling. Bis vor 13 Jahren war er Schiffskapitän, hat bis auf Australien alle Kontinente gesehen und sich dann schließlich nach Mlini, ein Dörfchen sechs Kilometer südlich von Dubrovnik, zurückgezogen. Dort vermietete er Zimmer an Touristen, die er auf das Meer hinausschipperte. Handabaka lebte mit seiner Familie ganz gut — bis die Tschetniks kamen, irreguläre serbische und montenegrinische Truppen. Das Resultat legt er auf den Tisch: Fotos seines bis auf die Grundmauern zerstörten Hauses. Wenn der Krieg vorbei ist, will er — was bleibt ihm anderes übrig? — noch einmal neu anfangen. Seine Stammkunden hat er bereits über sein Unglück schriftlich benachrichtigt — in der Hoffnung, daß ihm der eine oder andere gegen spätere Gratisunterkunft einen Kredit gibt.

Mlini ist inzwischen „befreit“. Die serbisch-montenegrinischen Kräfte haben sich zurückgezogen. Ihre vorderste Linie steht jetzt in Cavtat, fünf Kilometer weiter südlich. Doch noch ist die erst Ende Mai befreite Zone militärisches Sperrgebiet. Am Stadtrand von Dubrovnik lassen die kroatischen Soldaten keinen durch. Niemand weiß, ob die Serben nicht doch wieder vorrücken. Außerdem, so der Offizier am Kontrollposten, müsse das Gebiet erst entmint und — vor allem wegen verwesener Kadaver von Kühen, Schweinen und Pferden — desinfiziert werden. Wenn dann noch die wichtigste Infrastruktur — Wasser, Elektrizität — wiederhergestellt sei, dürften die Leute zurück.

Vandalismus und geschändete Gräber

Für den Reporter gibt es eine Sondergenehmigung. Ein Soldat wird zur Begleitung abkommandiert. Pavo Crncevic kommt dem Befehl gerne nach, denn „die Welt soll wissen, was hier geschehen ist.“ Sein Vater ist am 6.Dezember bei einem Artillerieangriff auf die Altstadt von Dubrovnik von einem Granatsplitter tödlich getroffen worden. Er ist freiwillig Soldat geworden, „zu einer Zeit, als wir Dubrovnik noch mit 172 leichten Waffen verteidigen mußten.“ Damals standen die „Tschetniks“, wie er umstandslos alle serbischen und montenegrinischen Verbände nennt, beim Hotel Belvedere, drei Kilometer vor der Stadtmauer.

In der „befreiten“, aber noch gesperrten Zone gibt es — abgesehen von den Soldaten — kein menschliches Leben mehr. Ausgestorbene, weitgehend zerstörte Dörfer. Und zum großen Teil ist die Zerstörung offenbar nicht Folge militärischer Auseinandersetzungen, sondern Ausdruck von purem Vandalismus. In Srebreno, einem Dörfchen direkt an der Adria, steht die Ruine des Hotelkomplexes Kupari, jahrelang den Offizieren der Armee und ihren Familien als Urlaubsdomizil vorbehalten. Die Rezeption ist eine leere Halle, die Zimmer sind restlos ausgeplündert, was zerschlagbar war, ist zerschlagen, was lose war, ist nicht mehr da. Keine Spur von Kämpfen, keine Einschüsse. Der gleiche Anblick in den Privathäusern der Umgebung. Alles wurde kurz und klein geschlagen, nachdem die bewegliche Habe einmal abtransportiert war. Ein ähnliches Bild bietet auch Bosanka, vier Kilometer von der Stadtmauer entfernt auf dem Berg. Alles zerstört, kein Haus mehr, das reparabel wäre. Auch die kleine Kirche wurde nicht verschont. Tabernakel, Kreuz, Stolen, Gesangsbücher liegen Krethi und Plethi durcheinander auf dem Boden vor dem zerbrochenen Gestühl, und selbst die Gräber vor der Kirche wurden zum Teil geöffnet.

Nur wenige hundert Meter vom Dorf entfernt, auf einem Sporn des Gebirgszugs, befindet sich eine kroatische Stellung. Von hier aus kontrollierten noch vor wenigen Monaten serbische und montenegrinische Freischärler die Straße, die unten am Berghang entlang führt. Hier waren die berüchtigten „Snajpers“, die Heckenschützen, postiert, die die Flüchtenden unter Beschuß nahmen. Von hier aus wurden die Granaten auf die Stadt abgefeuert.

Dubrovnik liegt zu Füßen des Betrachters, es ist das Bild, das hunderttausendfach auf Postkarten in alle Welt hinausgeschickt worden ist. Die Stadt mit ihren dicken mittelalterlichen Mauern, das alte Ragusa, die einst florierende Adelsrepublik, die allen venezianischen, später osmanischen und habsburgischen Gelüsten ein halbes Jahrtausend lang getrotzt hat — die Perle der Adria, ein Gedicht in Stein.