„die andere“ ist weg — die Hoffnung bleibt

Die Wochenzeitung „die andere“, Ziehkind der Bürgerbewegung, erschien diese Woche zum letzten Mal/ Furore machte das Blatt im Frühjahr 1991 mit der Veröffentlichung der 10.000 Spitzenverdiener im Ministerium für Staatssicherheit  ■ Aus Berlin Niklas Hablützel

Nach zwei Jahren und sieben Monaten ist der Traum ausgeträumt. Mitglieder der Bürgerbewegung haben ihn geträumt, prominente darunter, wie Bärbel Bohley und Jens Reich, die seit November 1991 als Mitherausgeber der Wochenzeitung die andere zeichneten. Vergeblich, am Mittwoch erschien die letzte Ausgabe.

3.300 Abonnements können kaum die Druckkosten decken, am Kiosk ist das Blatt fast völlig verschwunden. Früher reichten Straßenhändler. die andere wurde ihnen aus der Hand gerissen, so will es jedenfalls die Legende. Und Legenden sind so ziemlich das einzige, woran es dieser Zeitung nicht mangelt. Sie ist selber eine.

Schon im Dezember 1989 hatte das Neue Forum Berlin zur Gründung einer Zeitung aufgerufen, am 21.Januar 1990 war die erste Nummer erschienen. Historiker werden die Quelle zu schätzen wissen, sie ist das Dokument einer hochgradig intellektuellen Opposition, die an ihrem Erfolg gescheitert ist; deren Köpfe zumindest an den Rand des neuen deutschen Machtgefüges gedrängt wurden — Köpfe wie Klaus Wolfram, Philosoph, Herausgeber und Verleger. In den siebziger Jahren hatte er in konspirativen Dissidentenzirkeln mitgearbeitet, nahm dann zunächst mit gewisser Distanz an der nunmehr öffentlichen Opposition kirchlicher Gruppen teil, gehört zu den Gründern des Neuen Forum und ist noch heute keiner, der alten Zeiten nachtrauert und unbesehen dem Westen die Schuld für die ostdeutschen Frustrationen gibt.

Dafür sind ihm die alten Feinde noch viel zu nahe — auch daran fehlte es der anderen nie. Im Frühjahr 1991 hatte sie in fünf Ausgaben — ausverkauft waren sie alle — die Liste der 10.000 Spitzenverdiener im Ministerium für Staatsicherheit veröffentlicht. Aus den Summen, die da geflossen waren, schloß die Redaktion, es handle sich bei den Empfängern stets um „Offizielle Mitarbeiter“. Die Naivität dieser sprachkonformen Formulierung kam teuer zu stehen. Sportärzte, die für die Betreuung von Fußballmannschaften das Dreifache eines durchschnittlichen Monatsgehalts der DDR kassiert hatten, zogen vor das Berliner Kammergericht. Und bekamen Recht. Der Titel des „Offiziellen Mitarbeiters“ war ihnen nie verliehen worden. Sie wußten plötzlich nicht mehr, woher das viele Geld gekommen war und wofür es bezahlt wurde.

Zahlen muß jetzt Klaus Wolfram, Gesellschafter des Verlags BasisDruck, der die Zeitung damals noch herausgab. Prozeßkosten und Schmerzensgelder gehen in die Hunderttausende, Wolfram, der soviel Geld nun wirklich nicht hat, wird die Tagessätze jahrelang im Gefängnis absitzen müssen. Wenn er nicht doch noch Recht bekommt. Er hat das Verfassungsgericht angerufen, möchte die Frage klären lassen, ob das öffentliche Interesse an den Gehaltsempfängern der Stasi nicht doch deren Persönlichkeitsrechte überwiege. Er lächelt bei dieser Formulierung. Daß ein Verfassungsrichter anders entscheiden könnte, scheint ihm einfach nicht wahrscheinlich. Hatte er, der Philosoph, sich denn immerzu getäuscht, als er einst im DDR-Institut für Politik und Wirtschaft westliche Publikationen zu beobachten hatte? Gab es den Antikommunismus gar nicht, den er mit offizieller Erlaubnis studieren durfte? „Ich wundere mich schon“, sagt er.

Seine Zeitung wird über dieses Urteil nicht mehr berichten. Wir sitzen im Konferenzraum der Redaktion, über uns eine prächtige Stuckdecke, die letzte Ausgabe die andere liegt druckfrisch auf dem Tisch. Jens Reich hat den Kommentar auf Seite eins geschrieben. Der Bürgerrechtler macht sich Gedanken, „woher diese merkwürdig trübe Stimmung überall im Osten“ komme. Er weiß es nicht genau, rechnet Vor- und Nachteile der Währungsunion gegeneinander auf, vergleicht die Zustände vor und hinter der Grenze zum tschechischen Nachbarn, und hier, in Randlage, kommt ihm „wieder die ganze Zwiespältigkeit dessen zu Bewußtsein, was wir uns seit 1989 eingerührt haben und haben einrühren lassen“. Dann erst denkt er an das Ende seiner Zeitung und pfeift ein wenig im Wald, dem bayerischen, in dem er Urlaub macht: „Und die andere kann sagen: Wir sind dabeigwesen! Wir haben miteingebrockt und sind mitumgerührt worden. Und jetzt werden wir verdaut. Adieu, auf neue Zeiten!“

Wolfram unterstreicht diesen Satz mit dem Finger: „Genau so ist es.“ Er möchte über diese Hoffungen sprechen, über die Zeiten, nicht über die Zeitung. Vielleicht war die andere nie eine, das Wort Zeitung fehlt wohl nicht zufällig im Titel. Basisdemokratisch war über das Layout der ersten Nummern entschieden worden, aus der Basis der Bürgerbewgung stammten auch die Artikel. Daß so, ohne jedes Handwerk, auf die Dauer nicht einmal ein bloßes Sprachrohr der immer diffuseren Bewegung gemacht werden konnte, stellte sich bald heraus; Klagen über die Unlesbarkeit häuften sich, doch erst im Februar 1992 wurden Konzept und Layout geändert. Neben reinen Meinungsbeiträgen sollten nun professionelle Recherchen und Hintergrundberichte die Verlautbarungen Betroffener ablösen. Auch dieser Versuch scheiterte. „Professionelle Journalisten habe ich gesucht, aber nicht gefunden“, und schon spricht Wolfram wieder über die Bürgerbewegung, nicht über die Zeitung. „Sinnlichkeit“ ist sein Lieblingswort, das beide verbinden soll — und nicht kann. Die Sinnlichkeit der Demonstrationen, des Aufbruchs, wohl auch die Wärme des engen Zusammenrückens in Gefahr ist gemeint, und eben sie solle spürbar werden: „Mit dem Herzen dabeisein“, formuliert der Verleger ohne Scheu vor großen Worten und beharrt darauf: „Nichts haben wir falsch gemacht, diese Zeitung darf nicht anders sein, sie muß von unten schreiben, muß die Menschen ernst nehmen.“ Nur lesen sie die Gemeinten nicht mehr. Die erste Auflage kam mit 100.000 Exemplaren auf den Markt, die letzte mit 10.000. Aber auch Burdas Tiefschlag Super erscheint nicht mehr. „Großartig“ findet das Wolfram und malt mit den Händen einen Aufstand in die Luft, „es geht weiter.“