Absturz in den goldenen Westen

■ Eine neue Generation von Obdachlosen bevölkert die Straßen und Asyle dieser Stadt: Flüchtlinge und Übersiedler aus der ehemaligen DDR, die im Westen gestrauchelt sind. Drogensucht und Prostitution begraben häufig die letzten Hoffnungen.

Eigentlich war an diesem Abend alles so schrecklich normal und verkorkst wie immer. Tina Bauer hatte ein bißchen getrunken, aber richtig besoffen war sie nicht. Auch nicht trauriger als sonst, nur müde, hundemüde. Sie schloß die Tür von Zimmer 6, setzte sich auf ihre Matratze und begann zu heulen. Sie schlug einen dieser schweren Bierkrüge kaputt, riß sich die größte Scherbe in den rechten Arm. Blut floß über den Teppich. Alles wurde so leicht und still, nur der Fernseher machte immerfort seine Geräusche, aber irgendwann störten die auch nicht mehr. Sie war weg.

„Tina blutet!“ Zehn Minuten nachdem sie ihre Zimmertür geschlossen hatte, wurde sie von einem zwölfjährigen Mädchen, das auf dem gleichen Flur des Übersiedlerheims Hamburg-Schulterblatt lebt, gefunden. Und keine zwei Stunden nach ihrem mißlungenen Selbstmord saß Tina Bauer, 36 Jahre alt, mit einem genähten Arm wieder in Zimmer 6. Allein und einsam wie zuvor. Eine kleine, zähe Frau. Sie ist blaß, mit Narben am ganzen Körper. Eine Frau, für die an diesem Tag ein alter Lebenstraum einfach verschwunden war. „Ich bin schlicht durchgedreht“, sagt sie leise, „ohne richtigen Job, ohne Wohnung, ohne jemanden zum Reden.“

Sie knöpft ihre Bluse auf, krempelt die Ärmel hoch, sie zeigt ihre Brust. Narben am Hals, an den Händen, an den Armen. „Rolling Stone“ stand auf ihrer Hand. Die amerikanische Flagge hatte sie sich in die Brust geritzt. „BRD“ stand auf ihrem Arm. Im Gefängnis hat man ihr diese kleinen, in schmerzhafter Eigenarbeit eingegrabenen Symbole des Widerstands eins nach dem anderen wieder herausgeschnitten.

Tina Bauer hatte ihr ganzes bewußtes Leben versucht, in den Westen zu kommen. „Ich wollte Honecker ein verdammtes Arschloch nennen können“, sagt sie. Seit ihrem 18. Lebensjahr war sie Fluchthelferin. Codename: Michele. So hieß ihr Agent. Sie brachte Michele die Fluchtwilligen in die Kneipen von Ostberlin. 800 Mark West erhielt sie für jeden, und eines Tages würde sie, wie schon ihre Mutter, selbst versuchen zu fliehen. „Nach dem Westen hin.“

Auch unsichtbare Narben hinterlassen ihre Spuren

Es kam der Tag, an dem Tina Bauer gefaßt wurde. Unter den Fluchtwilligen war ein Stasi-Spitzel. Acht Jahre Knast in Hoheneck im Erzgebirge setzte es. Acht Jahre Schikane; Erbrochenes aufwischen und Knüppelhiebe, die ihre Schulter aufplatzen ließen; Treppenputzen mit der Zahnbürste und all die anderen Einfälle, die nur einem Wärterhirn entspringen können. Und sie hat noch andere Narben, die man nicht so leicht sieht.

Als man sie wieder entläßt, fürchtet sie sich, auf die Straße zu gehen. Die Hochhäuser fallen auf sie. Jedes Auto will sie überfahren. Sie zwingt sich zur Arbeit. Drei Wochen lang jobbt sie wieder als Schneiderin, dann versucht sie zu fliehen. In Ostberlin krallt sie sich an die Tür einer S-Bahn, die sie 1000 Meter in eine andere Welt transportieren soll. Die S-Bahn fährt los. Tina Bauer fällt auf die Gleise. Wieder Knast.

Als sie erneut rauskommt, hat ein anderes Zeitalter begonnen. Es rumort in der DDR. Diesmal plant sie genauer, überstürzt nichts. Gut vorbereitet beginnt ihre vierwöchige Flucht über Görlitz nach Bayern. Am 14. August 1989 schleicht sie sich über die Grenze, wiegt gerade noch 36 Kilo und sieht aus „wie eine Buchenwald-Schablone“. Tina Bauer ist auf die Konturen eines KZ-Häftlings geschrumpft, aber sie ist da. Endlich angekommen. Endlich im Westen.

Seit einem Jahr lebt sie nun im Übersiedlerheim Schulterblatt und findet keine Arbeit. Ihren Lebensunterhalt soll sie mit 435 Mark Arbeitslosenhilfe bestreiten. Ja Herrgott, der Hamburger Dom sei schön gewesen, und hier könne man nun Kohl ein Arschloch nennen, ohne daß einem etwas passiert. Das sei doch schon was, sagt sie.

Überlebenstechniken sind nicht oft vorhanden

Viele der Brüder und Schwestern aus dem Osten, die im Jubel der Begrüßungsorgien in den Westen kamen, liegen heute auf der Straße. Tina Bauer ist kein Einzelfall. Der Sympathiebonus ihnen gegenüber ist dahingeschmolzen. Auch der nationalistisch motivierte Freudentaumel und die Euphorie sind abgeklungen. Jetzt hat man Angst um Steuergelder.

Nach aktuellen Angaben von Obdachlosenunterkünften in Hamburg, Frankfurt, Hannover und München stammt etwa jeder Dritte, der dort auftaucht, aus der ehemaligen DDR. Die letzte offizielle Untersuchung in verschiedenen westdeutschen Städten liegt dagegen zweieinhalb Jahre zurück. Damals war noch jeder vierte Obdachlose ein Ex-DDR-Bürger, immerhin drei- bis viermal soviel gescheiterte Ostler wie in den Jahren zuvor. Durch die Öffnung der Grenze ist das Publikum in den Asylen und Pennertreffs jetzt zudem im Schnitt um etwa zehn Jahre jünger geworden. Die DDRler, die hier landen, sind — so die übereinstimmenden Auskünfte von Sozialarbeitern — im Mittel um die 30 Jahre alt. Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte (BAG-SB, Frankfurt) sind hierzulande insgesamt rund 200000 Aus- und Übersiedler obdachlos, haben die Durststrecke, die zwischen den zwei Welten in Ost und West liegt, nicht überstanden und sind nun ohne die gesetzlich verordneten Wohltaten wie Arbeit und Wohnung in besonderer Weise hilflos.

Das bis ins letzte beherrschte und gleichwohl behütete Leben habe nämlich, so der Hamburger Sozialarbeiter Helmut Schmidke, „eine Versorgungsmentalität“ produziert. Eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den alltäglichen Dingen, die so manchen für den

1Fall ins Bodenlose — kaum daß er die gesicherte sozialistische Existenz verließ — prädisponierte. Auch Thomas Specht-Kittler, von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhaftenhilfe in Bielefeld, glaubt, „daß hier manche völlig überfordert sind. Denn drüben war von der Wiege bis zur Bahre alles geregelt. Die normalen Überlebenstechniken in einer Marktwirtschaft, wie Verträge lesen, sich um Rente, Sozialhilfe und die eigene Wohnung kümmern, sind oft gar nicht vorhanden.“ Und nicht zuletzt sind viele der Ostler, die kamen, auf klassische Weise entwurzelt. Das alte Wir-Gefühl, das die Not diktierte, dieses dichte Geflecht aus Beziehungen und kleinen gegenseitigen Gefälligkeiten im Schatten eines alles regelnden Staates, ist verschwunden. Heute muß keiner mehr 18 Jahre auf seinen Lada warten. Heute gibt es auch im Osten BMW, genug Tapeten, reichlich Hochglanzmagazine. Es besteht keine Notwendigkeit mehr,

1mit dem Schlachter oder dem Elektriker gut Freund zu sein. Die Solidarität ist weg, es führt kein Weg zurück ins warme Nest. Und die meisten haben eh alles hinter sich gelassen; den Wohnungsschlüssel, die Möbel einem Bekannten vermacht, sind aufgebrochen, ihre Jobs losgeworden und auch in den alten Bundesländern gestrandet. Westlich und östlich der Elbe sind sie ohne Perspektive, haben Berufe gelernt, die sie zu nichts qualifizieren, weil diese Berufe hier keiner kennt. Sie sind aus den Gefängnissen entlassen worden oder haben in irgendeiner LPG ein Leben lang nur Gemüse gefahren, waren „Hilfsmelker“ und „Teilis“, die Trabbi-Teile bastelten. Hier sind sie allesamt ohne Chance. Es ist die Tragödie des kleinen Mannes, der Absturz des Autolackierers Kalle Brandt, der sich nun jeden Freitag in irgendeiner Kiezkneipe für 130 Mark zusammenschlagen läßt. Als Sparringspartner. Es ist die zu Ende gehende Biographie des Heroindea-

1lers und gelernten Malers aus Weimar, des 23jährigen Mike Zander, der sich inzwischen auf zwei Gramm pro Fix hochdosiert hat. Und es ist die Geschichte des Säufers Ronny Karlson, einst Treckerfahrer, der seit einem Jahr im Eingang eines Abbruchhauses in Hamburg-Altona lebt. „Es gab für viele DDRler“, so Peter Schröder-Reinecke, Sozialarbeiter der Diakonie in Hamburg, „keine Pufferzone, die sie vor der Obdachlosigkeit bewahrt hat. Es fehlten die Freunde im Westen, es fehlte das Geld, um sich ein Hotel zu nehmen. Und so lagen sie von einem Tag auf den anderen auf der Straße.“

Damit Klaus Heinke aus Dresden nicht plötzlich einschläft, dreht er wie im Hamsterrad seine Kreise im Hauptbahnhof. „CroBag“. Kiosk. Vorbei an den Strichern. Manche haben die Gesichtsfarbe einer Quitte. Gelbsucht. Dann vorbei an den Dealern. Schließlich überall die mit weißem Tuch verbundenen Arme der Junkies, die verknorpelten Arme, die panisch erweiterten Pupillen. Klaus Heinke, 22 Jahre alt, setzt sich hin. Ja, sagt er, jeden Tag sei er hier am Hauptbahnhof. Geht mit den Freiern mit, drückt sich ein Gramm Heroin in die Vene, flüchtet vor der Polizei. Beklaut Besoffene und schläft an der Peripherie des Bahnhofs im Dreck der Karstadt-Eingänge, manchmal fährt er auch mit der S-Bahn in endlosen Schleifen durch die Nacht. Zum Schlafen.

Die Lebensläufe sind häufig ähnlich

Maler ist er in Dresden gewesen, und als die Grenzen aufgingen, fuhr er ein paar Mal nach Hamburg. Einmal versäuft er das Geld für die Rückfahrkarte und geht mit einem alten Daddy ins Hotel. Er fährt zurück nach Dresden und ist schon am nächsten Wochenende wieder da, erzählt der Familie, er habe einen Job als Schlachter gefunden. Er probiert Junkie-Gift, Heroin. Nur so, aus Neugierde. Die immergleiche Dynamik der Sucht: Klaus Heinke geht auf den Strich, drückt sich jede verfügbare Mark in die Venen. Sonst kommt das Herzrasen, das Schwitzen, der Schüttelfrost. Er ist eigentlich ein ganz normaler Junkie. Ein Junkie, der aus dem Osten kam, einfach mal alles ausprobierte, ohne genau zu wissen warum. Seit einem Jahr nimmt er Heroin, seit einem Jahr lebt er am Hamburger Hauptbahnhof. Ach, sagt er, einen Traum hätte er schon gehabt. „Ich dachte, hier kann man das gute Geld machen; ein kleines Häuschen hätte ich mir gerne erarbeitet, einen GTI gefahren. Klar, das ist alles völlig in die Hose gegangen, ich bin hier im goldenen Westen voll auf die Schnauze geknallt.“

Die Polit-Rhetorik eines Helmut Kohl

Der goldene Westen, das war GTI und Marlboro, und ein kleines Häuschen für jedermann. Der goldene Westen — das war die kitschige Metapher für ein Leben im Glück. Und der Westen war zuallererst die BRD, in der ein paar Verwandte nach Kriegsende das große Los gezogen hatten. Alles sollte es dort geben. Westautos und Otto-Kataloge, Jakobs-Kaffee und Neckermann-Reisen. Sogar das Gras ist drüben grüner, hieß ein blöder Spruch. Weil nicht nur die Wetterberichte im Stasi-Sozialismus Propaganda waren, begann so mancher die Propaganda des Westens für die Wirklichkeit zu halten. Die Polit-Rhetorik eines Helmut Kohl und die aufgerüschten Erzählungen der Westverwandten wurden geglaubt, weil das „Neue Deutschland“ so offensichtlich log. Die Werbefilmchen von ARD zeigten die Wahrheit, weil sich in einer Welt der Lüge eben nicht leben läßt. Irgendwoher müssen die Illusionen ja kommen, an die man sich klammert und die nun zerplatzen.

Auch Tim Maler, 19 Jahre alt, hat sich wohl so ein paar Illusionen gemacht, kam mit einem Koffer voller Träume, hatte irgendwie die komische Idee, wenn du nur im Westen bist, wird alles gut. Eigentlich ist er wegen seines alten Motorrad-Fimmels hierher gekommen. Eine ETZ hat er drüben gefahren, hier sollte es eine Suzuki sein. Einmal mit 240 km/h über die Autobahn rauschen. „Mein gesichertes Leben hätte ich schon gerne wieder“, sagt er in seltsam defensivem Ton, „ich würde dann auch meine Lehre zu Ende machen.“

Offiziell war er im „Fachbereich Tierproduktion“ in einer LPG irgendwo in Mecklenburg, verschwand von einem Tag auf den anderen und hat sich seitdem nie wieder gemeldet. „Vielleicht sieht man sich“, ruft er seiner Mutter nach. Malt ein großes „B“ auf ein Pappschild und trampt in einem Rutsch nach Berlin. Nachts erreicht er die Stadt und schläft in seinem Schlafsack in Berlin-Kreuzberg unter einer Brücke und die nächsten Wochen in Abbruchhäusern, in alten Fabriken. Wird eben einfach ein Obdachloser, ein kleiner Punk, der im Kreuzberger Milieu unterkriecht, und der sich ein paar Polit- Phrasen vom „irgendwie gutem Sozialismus“ angeeignet hat, um sein Pennertum noch als Opposition gegen das Kapital zu inszenieren, das „viele immer ärmer macht“. Er trampt durch die Städte und manchmal, sagt er, hätten ihm die Augen fast weh getan. Alles so schön bunt hier. Gegenwärtig lebt er in einem Bauwagen auf dem Kemal-Altun-Platz in Altona. Vielleicht vierzig Obdachlose kampieren hier. Ein kleines Dorf. Blaßweiße Rauchfahnen steigen empor. Der Erdboden ist aufgerissen und matschig. Überall Bierdosen und aufgeplatzte Mülltüten.

„Irgendwas findet sich immer, was man machen kann“, sagt er. Fahrradfahren zum Beispiel. Betteln zum Beispiel. Oder Asterix lesen. Oder im Wagen vor dem Holzofen sitzen, im Schein der flackernden Kerzen, und in der Wärme auf den Sommer warten. „Irgendwann will ich weiter nach Mexico oder Honolulu vielleicht. Warm muß es dort sein, und es darf mich keiner kennen.“ Bernhard Pörksen

Namen der Obdachlosen von der Redaktion geändert