„Sie radeln wie ein Mann, Madame“

Das Fahrrad als „starker Emanzipator“ — eine kleine Kulturgeschichte des Damenradelns  ■ Von Klaudia Brunst

Berlin (taz) — Eine Zellstoffwarenfirma mit zwei Buchstaben warb in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts mit einer jungen Radlerin in weißen Hosen. Stolz verkündete die Bildunterschrift, nun sei der modernen Frau das Fahrradfahren endlich an allen Tagen gefahrlos erlaubt. Zu dieser Zeit übte ich gerade unter Inkaufnahme diverser Schürfwunden das Geradeausradeln und konnte die wahre Dimension dieser kleinen, bebändelten Errungenschaft bei weitem noch nicht abschätzen. Vielleicht aber ist das angstfreie Radeln an unreinen Tagen wirklich der glorreiche Schlußpunkt einer langen, hart erkämpften Befreiungsgeschichte: der Geschichte des Damenradelns.

Als der ehemalige Forstmeister Baron von Drais 1818 das erste Laufrad — die „Draisine“ — erfand, war dieses neue Fortbewegungsmittel selbstverständlich nur den Herren der Schöpfung vorbehalten. Wie hätte eine tugendhafte Dame auch in ihrem fußlangen Rock einen Drahtesel besteigen sollen, ohne dabei unsittlichst ihre Knöchel zu entblößen? Selbst 1871 mußten sich die wenigen Wagemutigen, die sich aufs gerade entwickelte Hochrad schwingen wollten, noch als Knabe verkleiden. Oder sie vertrauten ihr Leben einer wackeligen Damenversion an, bei der die züchtige Radlerin mit beiden Beinen auf einer Seite des großen Schwungrades saß.

Nachdem selbst Queen Victoria — dem Fahrradrausch erlegen — im Buckingham Palast auf einem monströsen Dreirad gesehen worden war, billigte die strenge Etikette den Damen der englischen Gesellschaft immerhin das Fahren auf dem „Tricycle“ zu, einem großrädrigen, 55 Kilogramm schweren Vehikel, bei dem dank einer umsichtigen Konstruktion die Knöchel der Damen bedeckt bleiben konnten.

Die Radlerin der Gründerzeit scherte sich später nicht mehr sonderlich um ihren guten Ruf. Sie war sportlich und mutig, und sie war eine frühe Vorkämpferin der Frauenbewegung. Um der häuslichen Enge und strengen Aufsicht ihres Gatten zu entfliehen, ließ sie sich tapfer als „schamloses Mannweib“ beschimpfen und riskierte für ihre gouvernantenfreien Ausflüge in die Natur nicht nur „tonnenartige Radfahrerwaden“ und das entstellende, weil puterrote „Bicycle-Gesicht“; die Medizin diagnostizierte als Folge des Radfahrens auch Erschütterungen des Nervensystems und der Unterleibsorgane. Schmerzhafte Blutungen, Geschwüre bis hin zur Unfruchtbarkeit sollten die Folgen übermäßigen Radgenusses sein. Die Männerwelt diskutierte lange, ob die vornübergeneigte Haltung der Radlerin am Ende nicht vor allem zur „vielfachen und unauffälligen Masturbation“ geeignet sei.

In ihrer kleinen Kulturgeschichte der Radfahrerin Sie radeln wie ein Mann, Madame dokumentieren die beiden Autorinnen Gudrun Maierhof und Katinka Schröder in sechs amüsanten Kapiteln die Entwicklung des Damenrades von den ersten waghalsigen Modellen an bis hin zum populären Gebrauchsrad der berufstätigen Arbeiterin.

Dabei wird anhand des sorgsam zusammengetragenen Materials und der zahlreichen Illustrationen deutlich, wie stark die Damenradbewegung das Gesellschaftsbild der Frau verändert hat.

Die Radlerin der Jahrhundertwende, die sich in Pumphose oder im praktischem „Beinkleid-Rock“ auf die Straße wagte, eroberte sich damit das Recht auf Mobilität und Unabhängigkeit.

Begeistert konstatiert die Frauenrechtlerin Lily Braun 1901 in ihrem Standardwerk Die Frauenfrage, neuerdings habe ein „starker Emanzipator“ gesellschaftliche Wandlung geschaffen. Gemeint war das Fahrrad, dessen befreiende Wirkung, so die Frauenrechtlerin, vor allem in der größeren Selbständigkeit und der Vereinfachung der Kleidung deutlich zu Tage träte, „und auch darin einen glücklichen Ausdruck findet, daß der Absatz der Klaviere seit Einführung des Fahrrades in stetigem Sinken begriffen ist“.

Gudrun Maierhof/Katinka Schröder: Sie radeln wie ein Mann, Madame. Als die Frauen das Rad eroberten. 160 Seiten, zahlr. Abb., gebunden; edition ebersbach 1992, 28DM; ISBN 3-905493-29-2.