StadtMitte: Aus der Arbeitsmarktlogik ausbrechen

Aus der Arbeitsmarktlogik ausbrechen

Stellen Sie sich vor, die für die Arbeitslosigkeit zuständigen Minister hätten Zivilcourage. Ministerin Hildebrandt (Brandenburg), Senatorin Bergmann (Berlin) und Bundesarbeitsminister Blüm laden 20.000 Arbeitslose in die Waldbühne ein und versuchen zu erklären, warum diejenigen, die hier sitzen, kaum eine Chance haben, Arbeit zu finden. Sie erklären engagiert, verweisen auf Finanzierungsprobleme, beschreiben eine Reihe erfolgversprechender Ansätze, erläutern Vollzugsdefizite, mahnen zur Geduld und bitten um Nachsicht. Eine ganz normale Großveranstaltung. Spärlicher Beifall.

Da meldet sich eine engagierte junge Frau zu Wort: Sie habe ja nicht »auf Arbeitsmarkt« studiert, aber ihr Menschenverstand und ihre Augen sagten ihr, daß man so zynisch und verantwortungslos mit Arbeitslosen nicht umgehen könnte. Diese Politiker hätten immer noch nicht begriffen, um was es vor allem im Ostteil der Republik geht: nicht um den schöpferischen Sieg der Marktwirtschaft, nicht um die millionenschwer unterstützenden Unternehmen, nicht um irgendein bescheidendes ABM- Projekt, sondern um das tagtägliche Gefühl des Weggeworfenseins, des Niedermachens von Fähigkeiten und Qualitäten. Wir haben das Gefühl, mitgestalten zu können, in Unternehmen, im öffentlichen Dienst, in ganz ungewöhnlichen Arbeiten. Laßt endlich zu, daß wir Sinnvolles tun — schaut nicht nur auf eure Logik von Treuhand und Aufschwung Ost, rief sie den politisch Verantwortlichen zu. Wer von blühenden ostdeutschen Ländern der Zukunft schwärmt, muß von »blühenden Menschen«, blühenden Unternehmen« und »blühenden öffentlichen Dienstleistungen« überzeugt sein.

Die Idee der Waldbühne mit 20.000 Arbeitslosen ist ausgedacht wie jene junge Frau, die zu Recht eine andere Politik reklamiert. Aber auch Ausgedachtes kann sehr real sein, kann Wirklichkeit treffen. Die bekannten Einstellungsuntersuchungen belegen es. Auch der ostdeutsche Versuch einer politischen Sammlungsbewegung setzt auf das kaskadenhafte Deklassierungsbewußtsein. Die Menschen in Ostdeutschland fühlen sich wie Hamster im Laufrad behandelt: Trotz auf der Straße liegender Arbeit überall werden sie von sinnvoller Arbeit eher abgehalten. Institutionen, Politiker und Programme denken zunächst an sich selbst — nicht an die Menschen, die beschäftigt werden könnten. Will man rasch etwas für die Menschen tun, muß radikal mit den bisherigen Logiken gebrochen werden. Wie könnte das zum Beispiel aussehen?

Ab 1993 bekommen eine Million Erwerbslose, die länger als drei Monate arbeitslos sind, die Gelegenheit, einen Arbeitsplatzkredit über drei Jahre für eine abhängige oder selbständige Beschäftigungsposition bei jeder Bank zu erhalten. Sie handeln vorher mit einem Betrieb einen normalen Arbeitsvertrag aus oder entwickeln ein genehmigungsfähiges Konzept für eine Existenzgründung — und schon wird die Lohn- und Gehaltszahlung von der Bank ausgelöst. Die Banken berechnen einen jährlichen, an den Existenzgründerdarlehen angelehnten Zins von sieben Prozent. Ein Kredit von zum Beispiel 100.000 Mark könnte mit einer konstanten monatlichen Tilgung von 417 Mark nach dem dritten Jahr in 240 Monaten zurückgezahlt werden. Die individuelle Verschuldung würde sich dadurch vermindern, daß die Arbeitgeber 35 Prozent der Tilgungsrate übernehmen. Die Individuen sind zur ratenmäßigen Rückzahlung verpflichtet, wenn sie einen festen Arbeitsplatz gefunden haben oder sich ihr Arbeitsplatz selbst trägt. Von einer Abzahlung des Kredites wird abgesehen, wenn Selbständige zusätzlich einen oder mehrere Arbeitsplätze schaffen oder das Gehalt unter 2.000/3.000 Mark (ledig/verheiratet) liegt. Bleiben sie auch noch nach drei Jahren ohne feste Stelle, muß der Bundesminister für Arbeit die aufgelaufenen Kreditkosten übernehmen. Nach einer gesamtfiskalischen Berechnung kostet das Programm jährlich 15 bis 20 Milliarden Mark — es kostet damit kaum mehr als die stupide Finanzierung der Arbeitslosigkeit.

Das wäre eine gänzlich andere Logik: die Banken treten in gesellschaftspolitische Verantwortung, die Menschen können ihre Arbeitsplätze selbst schaffen, die Beschäftiger werden im schonenden Zeitabstand herangezogen, und der Staat muß das Programm erst zu einer Zeit finanzieren, wo die Belastungen der Einheit übersehbar und die Menschen nicht schon längst kaputt sind.

Der Politologe Peter Grottian ist Professor an der Freien Universität Berlin. In der Stadtmitte schreiben Persönlichkeiten zu Problemen des zusammenwachsenden Berlins. Wegen einer technischen Panne mußte die Rubrik heute statt wie sonst üblich am Montag erscheinen. Sorry.