Eine Art Fötenfernsehen

■ Ultraschall versus Kindsregung: Entscheidend ist, was die Frau sieht und nicht, was sie spürt. Karin Flothmann sprach mit der Historikerin Barbara Duden über ihre Studien zur Geschichte des erlebten Körpers.

Die Historikerin Barbara Duden bewegt sich auf völligem Neuland. Bis Anfang des Jahres war sie Kollegiatin am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, zuvor hat sie fünf Jahre lang Frauengeschichte und Geschichte von Wissenschaft und Technologie an der Pennsylvania State University gelehrt. In den vergangenen zehn Jahren beschäftigte sie sich intensiv mit der Geschichte des Körpers, mit der Geschichte des erlebten Körpers. Sie studierte dafür die Protokolle des Eisenacher Hof- und Leibmedicus Johann Storch, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts akkurate Praxisnotizen über jede Patientin führte.

taz: Sie setzen sich als Historikerin auf eine besondere Art und Weise mit der Erforschung von Wahrnehmungsveränderungen auseinander. Im Mittelpunkt Ihrer Arbeiten steht der Körper, das Erlebnis der Schwangerschaft und ihre Wahrnehmung durch die schwangere Frau. Wie sehen über die letzten drei Jahrhunderte hinweg die Veränderungen aus?

Barbara Duden: Ich wollte als Historikerin wissen, wie Frauen im frühen 18. Jahrhundert vor einem Arzt über Kopfweh, Bauch- oder Gliederschmerzen geklagt haben. Aber ich wollte auch wissen, wie sie ihre monatlichen Blutungen erlebten. Wie hat eine Frau damals den Beginn einer Schwangerschaft erlebt, wie einen Abgang, eine Fehlgeburt? Gab es überhaupt vor 250 Jahren so etwas wie den Schwangerschaftsabbruch? Nachdem ich die Eisenacher Protokolle des damaligen Stadtarztes Storch genaustens studiert habe, kann ich nun dazu etwas sagen.

Davor steht aber die Frage, was das Wissen über das Erlebnis der Blutung einer Frau im frühen 18. Jahrhundert zu unserem gegenwärtigen Verständnis von Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch beiträgt. Ich glaube nicht, daß man aus der Geschichte etwas lernen kann. Das einzige, was die Historikerin mitbringen kann, ist Distanz. Und zwar die Distanz zu den Begriffen, die uns heute so selbstverständlich geworden sind: Leben, ungeborenes Leben, Fötus oder die Konfliktlage. Aus der Distanz meiner Kenntnis des 18. Jahrhunderts weiß ich, daß es damals keinen dieser Begriffe gab. Und ich weiß, daß es keine der Behandlungsformen und Erlebnisse gab, die heute eine Schwangerschaft oder einen Abbruch ausmachen. Es gab weder das Wort Schwangerschaftsabbruch, noch gab es ungeborenes Leben in Frauen, noch den Zygoten oder die Verantwortung der Frau für ein Leben in ihr. All das ist neu. Sehr neu.

Natürlich gab es Stockungen des Bluts im Unterleib, Hoffnungen auf das Erscheinen eines Kindes. Es gab die Angst davor, daß die Frau statt eines Kindes eine Mole, ein Mondkalb gebären würde. Natürlich gab es auch Mädchen, die sich auf eigene Faust oder mit Hilfe der Mutter und der Nachbarin darum bemühten, eine Stockung des monatlichen Blutes wieder in Fluß zu bringen. Und es gab die Engelmacherinnen und ihre Verfolgung, um dem preußischen Staat keine Soldaten entgehen zu lassen.

Aber all diese Erlebniswelten sind mit dem öffentlichen und persönlichen Verständnis des heutigen Schwangerschaftsbeginns und deshalb auch des Abbruchs nicht mehr zu vergleichen. Damals war das Ungeborene unsichtbar, heute ist es durch Techniken sichtbar gemacht. Damals war die Blutstockung ein ungewisser Zustand, der die Frage aufwarf, ob nicht durch Mittel wie Korallenpulver das Blut wieder in Gang gebracht werden sollte. Heute wird der Frau zugemutet, sich wissenschaftliche Tatsachen über die Zellteilung und Einnistung des Blastozyten selbst zuzuschreiben.

In Ihrem Buch stellen Sie das Erlebnis der Kindsregung, das in den Jahren um 1725 einer Frau die Sicherheit gab, schwanger zu sein, gegen die heutige Verifikation der Schwangerschaft per Ultraschall. Welcher Unterschied besteht da in der subjektiven Wahrnehmung des Körpers, im Verständnis dessen, was da unsichtbar wächst?

Der Ultraschall ist eine Technik der Sichtbarmachung des Ungeborenen, dessen symbolische Wirkung auf die Wahrnehmung der Schwangerschaft nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Neben der Routine-Beschallung der Schwangeren als eine Art Fötenfernsehen muß man aber auch an die öffentliche Wirkmacht weiterer Techniken der Visualisierung denken: die millionenfach verbreiteten Hochglanzfotos vom sogenannten Beginn des Lebens in Zeitschriften wie 'Life‘ und 'Stern‘, diese Konstrukte aus dem Elektronenmikroskop, die den Zygoten aller Welt vor Augen führen. Eine weitere Technik der Sichtbarmachung von Abstrakta ist die bildhafte Darstellung von statistischen Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten in der pränatalen Diagnostik. Es ist diese ganze Bandbreite bildhafter Darstellungsformen, die heute zur Herstellung erlebter Scheinwirklichkeit führt.

Damit ist eine neue Mentalität entstanden, die ich als die Entstehung und Entwicklung einer Frau als einer wissenschaftlichen Tatsache bezeichnen würde. Dazu gehört auch die wachsende Unfähigkeit, eine Unterscheidung zu machen zwischen wissenschaftlichen Tatsachen, technischen Konstrukten und dem eigenen Erleben. Mit größter Selbstverständlichkeit wird das Innere des Körpers dargestellt. Wie der Arzt visualisiert dies auch die Frau. Sie kennt die sogenannten Bilder von dem, was in ihr ist. In den Schwangerschaftshandbüchern hat sie längst Bekanntschaft mit dem sogenannten Fötus geschlossen. Mittels Ultraschall wurde ihr der Fötus bereits gezeigt und erklärt. Mit einem überdurchschnittlichen Praxisanteil von Beschallungen stehen die alten Bundesländer an der Spitze eines weltweiten Rennens zur bildhaften Aufklärung der Frau über ihre eigenen Eingeweide. Jedes Kind kennt die embryonale Form. Sie begegnet ihm ja auf Plakatwänden, in der Werbung für sogenannte Umweltverantwortung oder für das dickere Blech schwedischer Autos.

Das wirkt auch auf die Frau, die mit einem Schwangerschaftstest behaftet ist und die doch weiß, daß sie kein Kind bekommen möchte. Hebammen und Beraterinnen erzählten mir, daß Frauen neuerdings nach dem Abbruch in der Schale mit dem Abgang die embryonale Form sehen. So wird das technische Konstrukt aus Labor oder Klinik durch vielfache mediale Vermittlung zu einem öffentlichen Faktum. Und wichtiger noch: Es wird Teil des leibhaftigen Erlebens der Frau. In der Geschichte des Körpers sehe ich hier einen Bruch, den es in der Generation meiner Mutter noch nicht gab. Gültigkeit hat, was einem gezeigt wird und nicht, was die Frau selbst erlebt.

In der Eisenacher Praxis des Doktor Storch um 1725 gehörte das Ungeborene zu den unsichtbaren Wesen. Es war ein Nocht-Nicht, ein Etwas. Erst wenn es sich regte, erst wenn die Frau jenen inneren Stoß spürte, durch den sich ein „lebendig Kind“ ankündigte, galt eine Frau als wirklich und wahrhaftig schwanger. Die Kindsregung war jenes innere haptische Erlebnis, das die Frau im Herzen, aber auch sozial zu einer Schwangeren machte.

Erst diese Regung stellte im übrigen jene Schwelle dar, nach der für das Recht Abtreibung als Delikt gegeben war. Im deutschen Kaiserreich, im englischen und im amerikanischen Common Law war die Regung des Kindes jene entscheidende Tatsache, durch die Juristen anerkannten, daß die Frucht lebendig gewesen war. Das heißt, erst dann war ein Abbruch strafbar. Das heutige Objekt jeder Abtreibung, nämlich der Fötus, wurde damals mit anderen Worten belegt: Es war ein falsch Gewächs, ein unzeitig Wesen, gestocktes Blut, Unnützes, das die Natur aus dem Leib treiben mußte, und zwar auch mit Unterstützung bluttreibender Mittel.

Der Fötus ist heute ein eigenständiges Subjekt, sozusagen eine eigenständige Person geworden. Schwangere Frauen nehmen sich als uterines Umfeld für fötales Wachstum wahr. Ich denke, das hat Folgen für die Auseinandersetzungen um den Begriff „Leben“. Denn auch der Gesetzentwurf einer Fristenregelung betont den Lebensschutz und heißt explizit „Entwurf eines Gesetzes zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens“.

Als Historikerin versuche ich, den epochenspezifischen Schwund der Kluft zwischen wissenschaftlichen Tatsachen und dem Erlebnis von Schwangerschaft oder Abtreibung zu greifen. Ich nenne es eine wissenschaftliche Tatsache, wenn unter Biologen feststeht, daß eine Charakteristik des Zellkerns im Zygoten heterogen zu allen anderen Zellkernen des Frauenkörpers ist. So würde unter Biologen der Beginn einer Schwangerschaft definiert. Nun kommt aber ein zweiter Schritt hinzu. Wissenschaftliche Tatsachen werden zu einem populärwissenschaftlichen „Emblem“ verwandelt, wenn diese heterogene Charakteristik eines Zellkerns dazu verwendet wird, den Zygoten oder das Zygot zu einem Leben umzumünzen und hochzustilisieren. Es ist dabei nebensächlich, von welcher weltanschaulichen Warte diese Verwandlung vorgenommen wird: Ob dieser so ideologisierte Zygote vom Deutschen Bundestag als Rechtsgut Leben oder vom ehemaligen Erzbischof Münchens, Kardinal Ratzinger, als „kleinster Bruder Christi“ bezeichnet wird. Aufgrund einer nur unter Laborbedingungen und nur in streng biologischer Terminologie möglichen „Tatsache“ des in der Kernsubstanz des Zygoten eingeschriebenen Programms werden so durch Ratzinger alle Menschen zur Nächstenliebe mit einem gesichtslosen, gliedlosen „Nächsten“ eingeladen. Oder sie werden vom Deutschen Bundestag dazu genötigt, den unlogischen Sprung von der genetischen Heterogenität des Laborbefundes zu einem Leben als „Wert“ und als Rechtssubjekt zu machen: eine verrückte Verschiebung von wissenschaftlichen Tatsachen zu populärwissenschaftlichen Emblemen, hin zu einem gesellschaftlichen Idol.

Die Entstehung jenes substantiven Lebens, für dessen „hohen Wert“, wie der neue Gesetzentwurf sagt, der Frau eine Verantwortung aufgebürdet werden soll, kann am ehesten mit dem Handwerkszeug der Religionswissenschaft untersucht werden. Denn es drängt sich ja geradezu die Frage auf, wie jenes technisch-wissenschaftliche Konstrukt des Fötus zum Symbol für „Wert“ und für „Leben“ werden konnte. Unvermeidlich muß ich mich fragen, was ist das, ein Leben? Bestimmt keine wissenschaftliche Tatsache und auch nicht das Resultat einer Beobachtung. Das Leben kommt in der modernen Biologie nicht vor. In den sentimentalen Kollagen aus dem Elektronenmikroskop wird ein Emblem hergestellt, mit dem auf etwas Letztes, Transzendentes verwiesen wird. In meinem Essay habe ich das so formuliert: „Zwar wird in unserer Gesellschaft den verbindlichen Grundvorstellungen, die jenseits unseres Erfahrungs- und Erlebnishorizontes liegen, kein religiöser Charakter zugeschrieben. Aber das sollte uns nicht daran hindern, die Möglichkeit des Erscheinens dieser letztlichen Trivialität an einem spezifischen Ort zu vermuten. Ich habe keine bessere Erklärung für die Manifestation des „Lebens“ im Fötus, als diesen für ein sacrum der Gegenwart zu halten.“

Der neue Gesetzentwurf sieht eine Pflichtberatung vor dem straffreien Abbruch vor. Das heißt, jede Frau, die abtreiben will, muß sich vorher beraten lassen. Auch jede Schwangere muß sich in unserer Gesellschaft mittlerweile beraten lassen. Die ganze Schwangerschaftsüberwachung und -kontrolle zwingt Frauen mit dem „Mutterpaß“ in eine Reihe von Beratungsgesprächen und Untersuchungen. Was halten Sie von der Zwangsberatung, die gesetzlich festgeschrieben werden soll?

Dieser Gesetzentwurf beinhaltet für mich ein Gemenge von beunruhigenden und folgenreichen Widersprüchen. Ich frage mich, was sagt dieses Gesetz der Schwangeren? Was sagt es uns über die angebliche Wirklichkeit von Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch? Dabei will ich hier gar nicht über die im Entwurf enthaltene Herabwürdigung von Frauen zu hilfs- und beratungsbedürftigen Klientinnen sprechen.

Beratung soll, nach dem neuen Gesetzentwurf, die mit einer positiven Schwangerschaftsdiagnose behaftete Frau in die Lage versetzen, eine verantwortungsbewußte, eigene Gewissensentscheidung zu treffen. Der Titel sagt schon, worum es geht, um die „Not- und Konfliktberatung“. Die Frau, die zur Beratung gezwungen werden soll, hat schon einen positiven Urintest hinter sich. Sie lebt in einer Welt, die den Fötus auf dem Bildschirm und in der Werbung schamlos veröffentlicht. Was soll die Beratung da anderes sein, als ein rechthaberischer Unterricht, dessen Ziel es ist, der Frau zu vermitteln, daß hinter dem Bild des Fötus eigentlich ein Leben steht. Und in der Tat, die Beratung dient ja explizit dem „Lebensschutz“ und „der Anerkennung des hohen Wertes des vorgeburtlichen Lebens“. In Anbetracht meiner These von der Verschmelzung von wissenschaftlichen Tatsachen zu öffentlichen Emblemen wird in diesem Gesetz der Bundestag dazu eingesetzt, dem technogenen Ideologem des Lebens durch einen juristischen Vorgang verbindlichen Wirklichkeitscharakter zu verschaffen. Der Gesetzentwurf einer Fristenregelung gibt einem Laborergebnis nochmals soziale Wirklichkeit und verwandelt so die Frau per Paragraph in eine uterine Umgebung für ein neues „menschliches Leben“. Um die Verinnerlichung dieser Bedeutungsverschiebung sicherzustellen, braucht der wirklichkeitsfabrizierende Gesetzgeber eine Beratung. Ich frage mich, ob die Frauen nicht mit neuer Schärfe dazu verpflichtet werden sollen, sich bei Beraterinnen das Leben als neu definiertes höchstes Rechtsgut sozusagen abzuholen, bevor der Staat seine Unfähigkeit festschreibt, Frauen daran zu hindern, dieses Rechtsgut zu tilgen.

Literaturhinweis: Barbara Duden: „Der Frauenleib als öffentlicher Ort.“ Luchterhand Literaturverlag, Hamburg, Zürich, 1991