Kahlschlag auf Schiene und Straße

Laut EG-Verordnung 1893/91 darf ab 1.Juli öffentlicher Nah- und Regionalverkehr nur kommunal oder regional subventioniert werden/ Bund, Länder und Gemeinden streiten über Finanzierung  ■ Von Florian Marten

Hamburg (taz) — Das Ding trägt den Namen 1893/91, ist eine EG- Verordnung und tritt am 1. Juli in Kraft. Kein deutsches Parlament ist dazu befragt worden oder wird je dazu befragt werden. 1893/91 tritt in Kraft und damit basta! Rien ne va plus. Euro-Bürokraten mauscheln, Minister kungeln, Bürokraten exekutieren. 1893/91 ist eines der herausragenden Beispiele für die geheimnisvolle Dekret-Demokratie des neuen Europas, die in den kommenden Jahren zum Standard der Entscheidungsabläufe für die Veränderung unserer politischen Rahmenbedingungen wird. 1893/91 aber schlägt schon heute zu.

Ab 1.Juli darf in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft öffentlicher Nah- und Regionalverkehr nur noch kommunal oder regional subventioniert werden. Alle gemeinwirtschaftlichen Verkehrsleistungen, also solche, die betriebswirtschaftlich zu roten Zahlen führen, aber im öffentlichen Interesse sind (ermäßigte Fahrpreise, Streckenneubau, Schulbusnetze etc.), müssen von den jeweils lokal zuständigen Gebietskörperschaften bei den Verkehrsbetrieben bestellt und voll finanziert werden.

Verkehrsexperten finden das prima: endlich wird die Verkehrszuständigkeit regionalisiert, endlich erhalten Verkehrsunternehmen volle Bezahlung. Die geltende deutsche Gesetzeslage und Subventionspraxis würde dadurch gründlich ausgehebelt. Der gesamte Nahverkehr der Bundesbahn beispielsweise — bisher grundgesetzlich Bundessache— wird in Zukunft Sache der Länder und Gemeinden sein. Ein Nahverkehrszug von Dresden nach Meißen, Lübeck nach Hamburg oder Gummersbach nach Köln kann der Bundesbahn künftig völlig schnuppe sein. Sie wird ihn erst fahren lassen, wenn Städte oder Länder ihn bestellen und eventuelle Defizite voll tragen. Dasselbe gilt für jegliche Art des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) — ja sogar für den Güternahverkehr. Dieser Fortschritt hat nur einen Haken: Länder und Gemeinden wissen zwar besser, wo und warum sie öffentliche Verkehrswege haben wollen, ihre Haushaltskassen aber sind leer — im Westen wie im Osten. Während die EG-Verordnung 1893/91 in der deutschen Öffentlichkeit bisher keine Beachtung fand, wird in Expertenkreisen und zwischen Bund, Ländern und Gemeinden um so heftiger gestritten und gepokert. Ganz und gar keine Eile hatte das Bundesverkehrsministerium. Aus gutem Grund: mit der Bahnreform (405 Milliarden D- Mark bis zum Jahr 2000) und dem Bundesverkehrswegeplan 1992 (500 Milliarden bis 2010) hat Verkehrsminister Günther Krause zwei Mammutprojekte auf der politischen Pfanne, die er — gegen den Widerstand von Finanzminister Waigel — noch im Juli im Kabinett durchpeitschen will.

Eine Reform des gesamten Finanzierungssystems des öffentlichen Nahverkehrs, von Ländern und Gemeinden heftig eingeklagt, würde die Bundeskasse mit weiteren zig Milliarden belasten, soll der öffentliche Verkehr nicht zusammenbrechen. Dieses heikle Thema hat Krause dem Kabinett bisher nicht zugemutet. Er spielte — bis heute erfolgreich — auf Zeit. Der ÖPNV wurde für eine Übergangszeit von zwei bis drei Jahren von der neuen EG-Verordnung ausgenommen, für den Schienennahverkehr der Deutschen Bundesbahn versprach der Bund, weiter zu zahlen, 6,5 Milliarden D-Mark pro Jahr. Unklar ist allerdings, wie diese Gelder zweckgebunden an Länder und Gemeinden weitergereicht werden können. Mit diesem Doppeltrick hat sich Krause Luft verschafft. Die Ängste mancher Verkehrsexperten, Kommunal- und Landespolitiker sind aber gewachsen. Wenn Bonn seine Zuschüsse für den Nahverkehr von Reichsbahn und Bundesbahn auf die schon heute völlig unzureichenden 6,5 Milliarden einfriert, ist jede Ausbauplanung für die Katz, wird der allüberall verkündete Wechsel vom PKW auf die Schiene wohl kaum stattfinden.

Wenn dann 1994/95 die ÖPNV- Übergangsregelung ausläuft, könnten die Gemeinden und Länder mangels Finanzmasse zu einem drastischen ÖPNV-Kahlschlag gezwungen sein. Als Rettungsversuch hat der bayerische Verkehrsminister August Lang einen Entwurf eines bayerischen Nahverkehrsgesetzes vorgelegt. Lang will pro Jahr und Einwohner 10 DM an Kommunen und Kreise ausschütten — ingesamt 110 Millionen Mark. Der Vorsitzende des Bayerischen Gemeindetages, Thallmair, konstatierte, damit lasse Lang „den Blick für die Realitäten vermissen“. Wohl wahr — allein der Münchner Verkehrsverbund macht heuer 440 Millionen Miese, die 110 Land-Millionen würden gerade 4,5 Prozent des bayerischen ÖPNV-Defizits decken. Das war dem bayerischen Finanzminister Georg von Waldenfels schon zuviel: Er legte im Kabinett ein Veto gegen Langs Entwurf ein. Die Forderungsfront aus Gemeinde-, Städtetagen und Länderverkehrsministern gegen Bonn steht. Da bisher kein Land und keine Gemeinde verpflichtet ist, ÖPNV zu veranstalten, soll der Bund ein Bundesrahmengesetz für den ÖPNV verabschieden und anschließend einen stetig steigenden und erheblichen Milliardenbetrag an Länder und Kommunen umleiten. Geschehen soll dies entweder im Rahmen des Länderfinanzausgleichs oder durch einen erheblichen Anteil an der Mineralölsteuer oder durch eine bundesweite Nahverkehrsabgabe. Bisher aber blockt Bonn total. Die Bundestagswahl 1994 soll ohne Mineralölsteuererhöhung gewonnen, keine zusätzlichen Finanzmittel an Länder und Gemeinden gereicht werden. Bleibt es dabei, dann wird in den nächsten Jahren ein finanzpolitischer Flächenbrand die deutsche Nahverkehrslandschaft verwüsten. Wie das geht, demonstrieren die Ostländer: mangels Masse bleiben fast überall die Reformkonzepte zur Rettung und Modernisierung des ÖPNV auf der Strecke.