Sabotage

Matthias Matussek über die Schicksale von Selbstmördern im Beitrittsgebiet  ■ Von Bernhard Pörksen

Es hätte nun so sein können im Deutschland der Wechseljahre, daß sich die Opfer des Übergangs gleich reihenweise aus dem Fenster stürzen. Kein Wunder, möchte man meinen, bei 1,3 Millionen Arbeitslosen, bei Stasi-Skandalen, endlos erhöhten Mieten und Hunderten von abgewickelten Betrieben. Was sollen sie auch machen: Die „Hilfsmelker“ aus den LPGs und die „Teilis“, die ein Leben lang nur Trabi-Teile bastelten. Sie haben Berufe gelernt, die sie zu nichts qualifizierten, weil diese Berufe im Westen keiner kennt, sitzen als entlarvte Spitzel auf der Straße oder sind gänzlich unverschuldet in die Arbeitslosigkeit gerutscht und wissen nicht mehr weiter; ohne Chance für den Augenblick, ohne Perspektive für die Zukunft.

Es riecht nach Opfern im Staate des geeinten Deutschlands. „Selbstmord aus Existenzangst“ ('Der Spiegel‘) erscheint untrüglich als Indiz für die Brutalität der Westgesellschaft, als Indiz für korrupte Manager und skrupellose Geschäftemacher, und vielleicht stimmt es ja auch so. Nur — da hat der Autor Matthias Matussek schon recht — die Schicksale von Selbstmördern sind kein geeignetes Material für die tagespolitische Auseinandersetzung. Man muß genauer hinschauen, die Toten nicht „zum Knüppel machen“ und angeblich „steigende Selbstmordraten ('Neues Deutschland‘) mißbrauchen für ein bißchen Kapitalismusschelte. Matussek hat versucht, genauer hinzuschauen. Er hat Anzeigen in ostdeutschen Tageszeitungen aufgegeben und aus der Flut von Einsendungen schließlich verschiedene Schicksale ausgewählt; er hat die Hinterbliebenen besucht, mit Freunden und Angehörigen gesprochen.

Da ist der 14jährige Ralf, der eines Tages so fröhlich nach Hause kommt, weil er sich nun entschieden hat, und sich am Nachmittag mit einer Drahtschlaufe erstickt, aus Angst vor dem Spott seiner Schulkameraden, die sich über seine Pubertätsknoten auf der Brust lustig machen. Da ist der Leipziger Peter S., der doch alles hat, sogar Video, und sich zur Verwunderung der Nachbarn trotzdem aus dem Leben befördert.

Und da ist Ottmar Bernhard, der sich womöglich aus Verzweiflung über einen Flüchtling, den er als Grenzschützer an die Polizei auslieferte und eben nicht laufen ließ, viele Jahre später auf dem Dachboden erhängt. „Und Ottmar hat nie vergessen“, so wird seine Ehefrau zitiert, „wie sie diesen armen Wurm dann auf den LKW verladen haben, mit Tritten und Prügeln, und auch die anschließende Gerichtsverhandlung tauchte später immer wieder in seinen Erinnerungen auf, da war er fix und fertig.“

Es sind insgesamt acht Reportagen und äußerst bedrückende Porträts von Selbstmördern in der ehemaligen DDR, die da entstanden sind. Matussek schreibt einen ruhigeren Stil als in seinen früheren Büchern (Palais Abgrund, Palasthotel Zimmer 6101), er erzählt entspannter und ohne den unangenehmen und letztlich ermüdenden Dauereinsatz von Effekten. Eingestreut sind analytische Passagen, Zahlen und Fakten über das Tabu des Suizids im SED-Staat und den Trend nach der Wende: es gab, so das überraschende Ergebnis der Recherche, wohl keine Zunahme der Sebsttötungen, die Zahlen waren und sind eher rückläufig. Die dritthöchste Selbstmordrate der Welt hatte man vor dem Mauerfall in den neuen Bundesländern. 5.000 Menschen brachten sich alljährlich um, soviel ist bekannt, ansonsten wurde das Thema von offizieller Seite peinlich unter Verschluß gehalten. Der Freitod ist in einem totalitären System auch eine Geste des Widerstands, schreibt Matussek; er ist ein Aufbäumen gegen das Dekret des Stasi-Sozialismus, sich nun auch noch glücklich zu fühlen und sein Leben unauffällig zu verbringen, die eigenen Träume und Ideen an das ideelle Gesamtkonzept des Staates abzutreten.

Der Freitod ist eine Provokation gegenüber der alleinseligmachenden Idee des Kollektivs, die alles dominiert, die alles und jeden erreichen und zufrieden machen will. „Der Selbstmörder ist wichtig“, schreibt Matussek am Schluß seines Buches, „weil er uns mit den Themen Scheitern, Versagen und Tod konfrontiert. Der Selbstmörder ist der Saboteur einer auf Glück geschminkten Fassadengesellschaft, ob sie sich nun sozialistisch oder kapitalistisch nennt. Er vedient unseren Respekt.“

Matthias Matussek: Das Selbstmord-Tabu. Von der Seelenlosigkeit des SED-Staates , rororo aktuell, 12,80 DM