Tod auf den Straßen Sarajevos

■ Nach dem Massaker in Sarajevo will die bosnische Führung jeglichen Dialog mit Serbien abbrechen. Die EG beschloß unter dem Eindruck des Blutbads Sanktionen gegen Belgrad. Die KSZE bezweifelt, daß die ...

Tod auf den Straßen Sarajevos Nach dem Massaker in Sarajevo will die bosnische Führung jeglichen Dialog mit Serbien abbrechen. Die EG beschloß unter dem Eindruck des Blutbads Sanktionen gegen Belgrad. Die KSZE bezweifelt, daß die Wahlen in Serbien am Sonntag demokratisch abgehalten werden.

Wir werden mit ihnen nicht mehr sprechen.“ Mit ihnen, den Feinden; das sind die jugoslawische Volksarmee, die serbischen Freischärler und die Belgrader Regierung. Der bosnische Präsident Alija Izetbegović wandte sich am Mittwoch abend mit dramatischen Worten über das Fernsehen an seine Landsleute. Und er gab bekannt, von nun an werde seine Regierung jeden Dialog, jedes Friedensgespräch, jede Vermittlung der EG und UNO ablehnen. Bosnien und die Bosnier würden nun „aus eigener Kraft“ ihre Heimat verteidigen. Mit allen Mitteln! Mit Kamikaze-Aktionen? Auge um Auge, Zahn um Zahn?

Die schrecklichen Bilder des Massakers in der Innenstadt von Sarajevo, die zerfetzten Leichen, die verbrannten Körper und die schwerverletzten Überlebenden, flimmerten in Bosnien auch gestern wiederholt über den Bildschirm. Bisher 16 Menschen kamen bei dem Mörserangriff ums Leben, mehr als 114 wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Die Opfer, meist Frauen und ältere Menschen, standen in einer Schlange vor dem einzigen Geschäft in Sarajevo, an dem es an diesem Mittwoch Brot zu kaufen gab. Die drei Granaten sollen nach Angaben des bosnischen Fernsehens von den serbischen Stellungen auf den südöstlich der Hauptstadt gelegenen Trebević-Hügeln abgefeuert worden sein. Wie ein bosnischer Journalist berichtete, sollen Heckenschützen die Rettung der Verletzten behindert haben. Auch in der Nacht zum Donnerstag gingen die Kämfe in Sarajevo und anderen Teilen Bosniens weiter.

Erstmals kamen im Radio wie im Fernsehen — im zerbombten Sarajevo und in weiten Teilen Bosniens die einzigen Informationsquellen — militante Muslime zu Wort, die bisher bewußt nicht ins Rampenlicht gesetzt wurden, um so zumindest über die Medien die Spannungen zwischen den Kriegsparteien nicht anzuheizen. Eine Medienpolitik, die nun zu Ende ging.

In den nächtlichen „Notrufsendungen“ von Radio Sarajevo äußerten verbitterte Bürger ihren Unmut über die „sinnlose Dialogsuche“ des Präsidenten Izetbegović, dessen „Friedenspolitik das bosnische Volk ins Verderben stürzte“. Nicht wenige Anrufer appellierten, der muslimische Fundamentalist Murat Sabanović solle die Macht übernehmen. Militante Töne prägten das „Notruf- Sendeprogramm“, eine Einrichtung, die eigentlich dafür gedacht war, daß sich die Menschen Bosniens gegenseitig Lebenszeichen, Mitteilungen und Hinweise über Fluchtmöglichkeiten und humanitäre Hilfslieferungen geben können, da das Telefonnetz in weiten Teilen zerstört, Straßen- und Bahnverbindungen unterbrochen sind. Nun tönen über diese Sendungen Kampfaufrufe und Rachegefühle gegen Serbien, gegen die jugoslawische Generalität und den Belgrader Präsidenten Slobodan Milosević. Und immer wieder wird Murat Sabonović zitiert, Anführer einer extremen Kampftruppe aus Visegrad, der schon vor Wochen erklärte: „Erst wenn wir in Kamikaze-Aktionen den Krieg auf Belgrads Straßen tragen, dann wird Serbien aufwachen, dann erst haben wir die Chance, unser Bosnien zu befreien.“ Es sind folgende Ereignisse, die die Stimmung vom passiven Widerstand und einer Abwartehaltung, Europa werde Bosnien doch zur Hilfe eilen, hin zu Verzweiflung, Rache und Vergeltung umschlagen ließen: Letzte Woche richteten serbische Freischärler in dem kleinen Ort Nova Kasaba unweit von Zvornik ein Massaker an muslimischen Frauen, Kindern und alten Männern an. Doch dem nicht genug: Auf einer Pressekonferenz in Zvornik verkauften serbische Extremisten dieses Massaker an die ausländische Presse. Sie forderten Journalisten sarkastisch dazu auf, doch mal Nova Kasaba zu besuchen, da würden sie eine „Überraschung“ erleben. Nicht ahnend, welche Greuel sie vorfinden würden, brachen einige westliche Journalisten nach Nova Kasaba auf. Sie fanden die verwesten Leichen von 29 mit Kopfschüssen getöteten Dorfbewohnern. Diese Geschichte rief nicht nur in Sarajevo große Empörung hervor. In der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica, dem ehemaligen Titograd, schoß ein Muslimane auf den serbischen Freischärler- und Cetnik-Führer Vojislav Seselj, ohne ihn jedoch schwer zu verletzen. Seselj konterte: Dafür werde er hundert Muslimanen in Bosnien hinrichten lassen.

Was folgte, war am Dienstag ein Großangriff auf die Kinderklinik im Zentrum von Sarajevo. Vier Stockwerke brannten dabei unter dem Artilleriefeuer vollkommen aus. Drei Baby starben, weil der Strom für die Brutkästen ausfiel. Stunden später durchkämmten serbische Heckenschützen das Gebäude erneut und zerstörten die letzten medizinischen Geräte.

Auch auf das Massaker in Sarajevo reagierte die serbische Seite mit Sarkasmus. Die Muslime hätten selbst eine Mine in die Fußgängerzone gelegt, um so die Welt irrezuführen und ein weiteres Mal „das bedrohte serbische Volk“ als Schuldigen zu verunglimpfen, so der bosnische Serbenführer Radoslav Karadzić im Belgrader Fernsehen. Auch der Oberkommandierende der ex-jugoslawischen Streitkräfte für Bosnien, Radko Mladić, erklärte, man werde bald die muslimischen Attentäter fassen, die diese ungeheuerliche Provokation in der Sarajevoer Altstadt verübten. Und wörtlich: „Denn Serben waren es nicht und würden so eine Schandtat nie tun.“ Roland Hofwiler