DEBATTE
: Die Wiederkehr der Wagenburg

■ Die aktuelle Streikwelle und die Immobilität der Gesellschaft

Die Mülltonnen werden wieder pünktlich geleert, und die Poststempel sausen wie zuvor im mechanischen Halbschlaf auf Briefe und Pakete herab, doch die Stimmung im vereinten Deutschland ist schlecht wie lange nicht mehr. Diffuse Ängste und handfeste Befürchtungen scheinen von Woche zu Woche zu wachsen, ja, sich gegenseitig aufzuschaukeln. Das Politbarometer der Umfrage-Sphinxen zeigt beständig nach unten: rapide sinkende Zustimmung zu den beiden großen „Volks“-Parteien, Wahl- und Politmüdigkeit, bedrohliche Erfolge der rechtspopulistischen Parteien. Von der Inflationsrate bis zum Überdruß am Fernsehprogramm — den Deutschen reicht's, und viele wissen kaum wohin mit ihrer Wut. Daß es ihnen nach wie vor so gut geht wie nur einer kleinen radikalen Minderheit auf der Welt, macht ihnen nur noch mehr Angst: Angst vor Verlust und Veränderung.

Der kleine Mann ist sauer

Jenseits aller Dramatisierungen des Augenblicks signalisiert gerade die aktuelle Streikbereitschaft die Wiederentdeckung einer außerparlamentarischen Protestform, die alles andere als revolutionär ist. Im Kampf gegen Bundesregierung und Arbeitgeber, soziale Ungerechtigkeit und das Bonner Chaos repräsentiert die verschärfte Tarifauseinandersetzung ein „letztes Mittel“, das zugleich ein ehernes, durchweg konservatives Ritual ist: Der kleine Mann, zumal „draußen im Lande“, zeigt durch Warnstreiks, Urabstimmung und „Arbeitskampfmaßnahmen“ seine Unverzichtbarkeit, reimt wütende Kalauer gegen die da oben, Helmut Kohl und das „Lohndiktat“, und prophezeit vor jedem Fernsehmikrofon zugleich den Ausgang des Verfahrens: Am Ende wird der kleine Mann doch immer verarscht!

Nicht zuletzt der Gelegenheit, solche Wahrheiten wieder einmal in aller Öffentlichkeit aussprechen zu können, dem kontrollierten Dampfablassen also, dienen die Inszenierungen gewerkschaftlicher Gegenmacht, die in Deutschland von den hauptberuflichen Vertretern des kleinen Mannes (und der kleinen Frau) mit der Präzision eines funktionierenden Hauptpostamtes ins Werk gesetzt werden. Der materialistische Kern dieser wohlorganisierten Arbeitnehmerselbstverteidigung fand diesmal seinen tiefsten Ausdruck in dem prägnanten PR-Slogan der ÖTV: „Beim Einkommen dranbleiben.“ Nicht nur die verunglückte Grammatik, auch die ökonomistische Semantik deutet allerdings auf eine doppelte Formulierungsnot: die Unzufriedenheit mit den sozialen Verhältnissen — von den Wohnungsmieten bis zum „Asylantenproblem“ — läßt sich nicht mehr auf den gewerkschaftlichen Begriff bringen, auf die Metaphysik des friedlichen Klassenkampfes, der bis in den Aufsichtsrat von Daimler-Benz geführt hat.

Schon die 1.-Mai-Parole vom solidarischen Teilen war ein an der Basis ungeliebter Kompromiß zwischen mehr Kohle und mehr Konsens, der sich vor lauter Verantwortungsethik in die unglaubwürdige Versöhnungsfloskel rettete. Die denkwürdige Konzeptionslosigkeit, in der die akute politische Legitimationskrise mit der Mobilisierung der Klientelinteressen, mit der korporativistischen Verteidigung des wirtschaftlichen Besitzstandes beantwortet wird, markiert zugleich selbst die Flucht vor den angsteinflößenden Herausforderungen der neuen gesellschaftlichen Brüche. So erschöpft sich die Gewerkschaftskritik an der sich eigenhändig demontierenden Regierung in reflexhafter Abwehr gegen die „Scharfmacher“ (Franz Steinkühler), im Ruf nach einer materiellen Gerechtigkeit, die, was immer auch geschehen mag, jedenfalls „dranbleiben“ will: Fortschritt im Geleitzug, linear und jedes Jahr. Dann spielen weder ökologische, (ost-)europäische noch entwicklungspolitische Überlegungen eine Rolle. Nicht einmal die vielbemühte „soziale Komponente“ des Tarifabschlusses wurde von der ÖTV und ihrer Chefin mit der Ausstrahlung einer AOK-Abteilungsleiterin ins Gespräch gebracht, ganz zu schweigen von einer tarifpolitischen Initiative etwa für die grotesk unterbezahlten Krankenschwestern und Polizeibeamten. In die Phalanx der „kampfbereiten Kolleginnen und Kollegen“ reihen sich auch jene linken FreundInnen des kleinen Mannes ein, denen früher schon mal mehr eingefallen war als die gestanzte Arbeitnehmerrhetorik vom bösen Kanzler, der die Gewerkschaften zum Sündenbock seiner gescheiterten Politik zu machen versucht und nun „als Verlierer vom Platz“ geht.

Kohl-bashing

Tatsächlich ist die umgekehrte Argumentation plausibler. Die verbreitete Unzufriedenheit in der Gesellschaft sucht sich selbst die Sündenböcke — Ausländer, Asylanten, Ecu-Europa, nimmersatte Ossis, arrogante Wessis — und eben Helmut Kohl, der viel versprach und wenig hielt. Gerade weil die noch amtierende Bundesregierung für ihr gnadenlos ratloses Weiter so zu Recht kritisiert wird, eignet sie sich zur Renaissance einer ebenso archaischen wie unpolitischen Übung: das Kohl-bashing, das die achtziger Jahre intellektuell begleitete, kehrt nun in einer populistischen Variante zurück, die neue Einigkeit zwischen dem ex-sozialdemokratischen REP-Wähler (und Gewerkschaftsmitglied) und dem altlinken Grünen-Funktionär stiftet. Die Enttäuschung über die Regentschaft des Kanzlers aller Deutschen scheint auch bei jenen tief zu sitzen, die von ihm nie etwas anderes erwarten konnten als flagrante Verstöße gegen die deutsche Sprache und offenen Verrat an der Aufklärung. Die Rufe nach „Kassensturz“ wie die Proteste gegen ein „Lohndiktat“ sind ebenso berechtigt wie hilflos, denn sie simulieren die Eindeutigkeit einer politisch-sozialen Topographie zwischen Regierung und Opposition, Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die längst schon — und in besonderem Maße seit 1989 — der Wirklichkeit widerspricht. So wenig die Gewerkschaftsbürokratien wirklich den kleinen Mann vertreten, der oben sowieso nichts mitzureden hat und dafür wenigstens jedes Jahr prozentual entschädigt wird, so wenig befinden sich die Sozialdemokraten in der Rolle derer, denen man die genauen Zahlen zur Lage der Nation schnöde verweigert und sie damit hindert, uns allen den richtigen Weg zur inneren und äußeren Einheit zu weisen, den Weltfrieden zu sichern und die Umwelt zu retten.

Koordinaten dahin

Es kennzeichnet gerade die politische Situation, daß der kleine Mann weder Kohl noch Engholm zutraut, ihn nachhaltig vor den Zumutungen der Welt zu schützen. Der verbreitete Eindruck, die gegenwärtige Konstellation sei ohne substantielle Alternative, rührt ja gerade nicht daher, daß Fragen „nach der Funktionstüchtigkeit des Systems“ tabu sind, wie die 'Frankfurter Rundschau‘ meint. Im Gegenteil: Was fehlt, sind vernünftige, konsensfähige Antworten. Doch weder das endemische Raunen über die Aufgaben einer phantomhaften „europäischen Linken“ (Peter Glotz) noch der rituelle Hinweis auf die Unzulänglichkeit des kapitalistischen Profitprinzips können vor der Einsicht bewahren, daß es die Alternative nicht gibt. Aber es gibt Alternativen in einer zivilen Gesellschaft. Sie dürfen sich allerdings weder an einem bigotten Gemeinwohlpathos orientieren, noch den Rückfall in eine Wagenburgmentalität fördern, in der rechtspopulistische Aggressivität und linkskonservatives Festungsdenken den Blick auf die Realität trüben. Die bedrückende, gegenwärtig aggressiv aufgeladene Immobilität der Gesellschaft wird von einem wesentlichen Reiz-Reaktionsschema der Entpolitisierung beherrscht: gesellschaftliche Angstreflexe, Indikatoren objektiver Umbrüche, sollen durch möglichst effektive und symbolisch wirksame Klientelpolitik aufgefangen werden. Wer sich in dieser Situation auf den kleinen Mann beruft, um Ungerechtigkeit wie Unsicherheit der großen Politik mit der gerechten Forderung nach zehn oder elf Prozent mehr Lohn zu beantworten, setzt auf die Kontinuität jenes „Modells Deutschland“, dessen strukturelle Krise die Hauptursache der sozialen Mißstimmung ist, zementiert die Logik der Wagenburg, in der Politik zum bloßen Verteilungskampf degeneriert: die perfekte Ergänzung der Kohl-Waigel-Möllemann-Connection. Reinhard Mohr

Publizist in Frankfurt/Main