Gefangen im Dilemma des kleineren Übels

■ 32 Millionen Wahlberechtigte sollen heute den Nachfolger Corazon Aquinos bestimmen. Alle sieben KandidatInnen versprechen einen Ausweg aus dem wirtschaftlichen und politischen Chaos auf den ...

Gefangen im Dilemma des kleineren Übels 32 Millionen Wahlberechtigte sollen heute den Nachfolger Corazon Aquinos bestimmen. Alle sieben KandidatInnen versprechen einen Ausweg aus dem wirtschaftlichen und politischen Chaos auf den Philippinen. Doch die Programme der überwiegend rechtsgerichteten BewerberInnen aus den alten Familienclans, so sie welche haben, bleiben vage.

Sie hängen zu Hunderttausenden an Bäumen und Strommasten, kleben millionenfach an Mauern, Toren, Brücken, Läden und Autos: die Poster und Sticker mit den Namen und Fotos der Kandidaten und Kandidatinnen für die heutigen Wahlen auf den Philippinen. Die Plakatierer hatten in den vergangenen Tagen ihre Aktivitäten mehr und mehr in die Nachtstunden verlegt, um beim Überkleben nicht von wütenden Anhängern der Konkurrenz erwischt zu werden. Denn freien Platz fand nur, wer zu akrobatischen Kletterleistungen imstande war oder über Leitern verfügte. Doch so groß die physischen Anstrengungen auch waren, mehr als den Namen und eventuell noch die Parteizugehörigkeit mochten die KandidatInnen der Wählerschaft nicht zumuten. Programmatisches fehlte so durchgängig, daß die nicht sonderlich intelligente Eigenwerbung eines Newcomers „Neues Gesicht — neues Glück“ schon wieder originell wirkte.

Sechs Jahre Aquino-Regierung mögen zwar die vom ehemaligen Diktator Marcos ihrer Funktion beraubten demokratischen Institutionen wiederbelebt haben — die politische Kultur haben sie kaum verändert. Immer noch entstammt die Mehrzahl der PolitikerInnen den bekannten Familienclans — ob sie nun Aquino, Cojuangco, Osmena oder Laurel heißen. Immer noch ziehen sie mit großer Entourage unermüdlich über den Archipel. Und immer noch geht es bei den spektakulären Wahlauftritten nicht um politische Inhalte, sondern einzig und allein um das alte oder neue Gesicht. Politik als Unterhaltung oder besser Unterhaltung als Politik: War die Show gut, muß auch der Kandidat gut sein.

Natürlich versprechen alle sieben PräsidentschaftskandidatInnen Lösungen, mit denen sie das Land vom Chaos befreien wollen. Doch weder die Umweltschutzverbände, die einflußreichen christlichen Kirchen noch die zahlreichen mit Entwicklungsfragen befaßten Nichtregierungsorganisationen sehen in den vagen Programmen der überwiegend rechtsorientierten BewerberInnen überzeugende Antworten. Den politischen Willen und ein plausibles, umfassendes Konzept für eine dauerhafte Wirtschaftsbelebung, eine größere Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen, verbesserte soziale Gerechtigkeit und einen wirksamen Umweltschutz trauen sie allenfalls dem linksliberalen ehemaligen Senatspräsidenten Jovito Salonga (72) zu. Nicht wenige Organisationen verzichteten sogar ganz auf Empfehlungen für das höchste Staatsamt und legten ihren Mitgliedern nur die Wahl einiger weniger Senatoren und Kongreßabgeordneten nahe.

Vor ähnlichen Orientierungsproblemen steht ein Drittel aller Wahlberechtigten, die sich bis zuletzt unentschieden zeigten. Mitarbeiter einer Wählerbildungskampagne berichten, daß viele ganz auf ihr Stimmrecht verzichten wollen, um nicht gezwungen zu sein, das „kleinere Übel“ zu wählen. Amando, der 35jährige Manager eines Hotels im Zentrum Manilas, könnte einer von ihnen sein. Am vergangenen Mittwoch beobachtete er vom Fenster der Lobby aus einen Sternmarsch von AnhängerInnen der Marcos-Witwe Imelda. „Die latschen sich doch nur in der glühenden Hitze die Hacken ab, um die von Imelda gezahlten 300 Pesos (etwa 20 DM) zu kassieren!“, wandte er sich angewidert ab. Auf die Frage nach seinem Favoriten zuckte er nur mit den Schultern. Selbst in philippinischen Wirtschaftskreisen bestehen zahlreiche Vorbehalte gegen die meisten Bewerber. Hierzu zählen wohl weniger deren autoritäres Gebaren als ihre nur zu bekannte Neigung, politische Macht auch in wirtschaftliche Vorteile für sich und ihre Klientel umzumünzen.

Gerade unter den jüngeren Wahlberechtigten haben viele die Nase voll von Korruption und Vetternwirtschaft, die ihnen die Zukunft verbauen. Wie die 18jährige Theresa aus Los Banos, südlich von Manila, setzen sie auf die Juristin Miriam Defensor-Santiago. Die frühere Chefin der Einwanderungsbehörde und kurzzeitige Ministerin für Agrarreform verspricht, den Augiasstall von Bestechlichkeit und Ineffizienz im öffentlichen Dienst mit eisernem Besen auszumisten. Ihr Vorbild — und das wissen nur wenige — ist Lee Kuan Yew, der autokratische Ex- Premier von Singapur. Letzten Umfragen zufolge steht Frau Defensor- Santiago neben Ex-Verteidigungsminister Fidel Ramos in der WählerInnengunst ganz oben. Ramos, während der langjährigen Marcos- Diktatur Polizei-General und einer der Hauptverwalter des Kriegsrechts, genießt die Unterstützung von Präsidentin Aquino. Durch seine führende Rolle bei der Militärrevolte gegen Marcos und der Niederschlagung von insgesamt sechs Putschversuchen hätte er seine „Verfassungstreue“ unter Beweis gestellt, argumentiert die Präsidentin.

Noch nicht aus dem Rennen ist auch Ramon Mitra jr., Sprecher des Repräsentantenhauses. Er lag bei den Umfragen zwar deutlich hinter Frau Santiago und General Ramos, kann aber auf den stimmenbeschaffenden landesweiten Apparat der (regierenden) Mehrheitspartei LDP hoffen, unter deren Flagge zahlreiche Senatoren, Kongreßabgeordnete und Kommunalpolitiker zur Wiederwahl antreten. Ein bis vor kurzem von niemandem erwartetes Comeback ist Eduardo Cojuangco jr. gelungen. Der Aquino-Vetter hatte über mehr als ein Jahrzehnt durch seine Kollaboration mit Marcos ein gewaltiges Firmenimperium errichtet und war gemeinsam mit ihm aus dem Lande gejagt worden. Ende 1989 aus dem Exil zurückgekehrt, setzte er auf „alles oder nichts“ und investierte Teile seines auf 500 Millionen Dollar geschätzten Vermögens in den Wahlen.

Einer dieser vier Kandidaten wird am 30.Juni, wenn Aquinos Amtszeit ausläuft, voraussichtlich als neuer Präsident vereidigt werden. Trotz erheblicher Resonanz im progressiven und linken Lager werden Jovito Salonga kaum Aussichten auf einen Überraschungserfolg eingeräumt. Und die politischen Ambitionen von Vizepräsident Salvador Laurel und Madam Imelda Marcos dürften mit einer deutlichen Abfuhr seitens der Wählerschaft beendet werden.

Neben der Möglichkeit eines relativ friedlichen Regierungswechsels ist ein völlig anderes Szenario nach dem 11.Mai nicht auszuschließen: Da die Resultate der Spitzenreiter wahrscheinlich dicht beieinander liegen dürften, könnten Wahlanfechtungen, organisierte Massenspektakel der unterlegenen Bewerber und eine wochenlange Verzögerung der Bekanntgabe der amtlichen Endergebnisse ein kritisches Machtvakuum entstehen lassen. Unter dem Vorwand, Chaos zu verhindern, könnten die philippinischen Streitkräfte dann zugunsten eines der Kandidaten intervenieren (höchstwahrscheinlich wäre das Ramos) oder gar zunächst selbst die Macht ergreifen.

Das hektische Rennen um die Macht wurde auch am Sonntag, einen Tag vor dem Urnengang, noch mal von einer ganzen Serie blutiger Bombenanschläge begleitet: Granaten und Bomben gingen bei Wahlkundgebungen in drei südphilippinischen Städten hoch. Dabei wurden nach Angaben der Polizei acht Personen getötet und 82 Menschen verletzt. Schon im Morgengrauen des Sonntag tötete die NPA-Guerilla bei einem Überfall in der nordphilippinischen Provinz Cagayan 15 Angehörige der paramilitärischen Einheiten. In dem am Samstag beendeten dreimonatigen Wahlkampf wurden nach einer Zählung der Polizei mindestens 46 Wahlkandidaten oder deren Anhänger von politischen Rivalen ermordet. Um Gewaltausbrüche am Wahltag zu verhindern, hat Polizeichef Cesar Nazareno die Polizeikräfte des Landes in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Erhöhte Einsatzbereitschaft hat Generalstabschef Lisandro Abadia auch für die Truppen angeordnet. Gebhard Körte

und Charles Rimando, Manila