GASTKOMMENTAR
: Berlin wie Neapel?

■ Ein deutscher Streik im italianisierten Deutschland

Mit einem Streik kann man leben, soweit sind Italiener und Deutsche einig geworden. Manche italienische Sonderkorrespondenten können sogar davon leben, weil ihre Medien mit großem Interesse und noch größerer Schadenfreude die deutsche Italianisierung verfolgen. Sieh mal diese Teutonen an: die wollten vor Maastricht die Azzurri in die zweite Liga Europas relegieren. Nun haben sie sich ein östliches Mezziogorno an den Hals gelegt, werden bald eine italienische Staatsverschuldung kriegen. Dazu noch die Streiks und die stinkenden Mülltonnen. Berlin wie Neapel?

Stereotypen sind langlebig. Der Überraschungseffekt in Italien hängt von den italienische Mythen über Deutschland ab. Die Italiener glauben immer noch an die preußischen primären und sekundären Tugenden, Pünktlichkeit der DB-Züge inbegriffen. Sie kapieren nicht, daß die Deutschen die besseren Italiener sind. Mindestens seitdem Graf Lambsdorff, aufgrund der eingenommenen Schecks, es zum Vorsitzenden der FDP gebracht hat.

Nehmen wir zum Beispiel die römische Lässigkeit, mit der Busse durch Fahrräder ersetzt werden (ich meine »römisch« im idealtypischen Sinn: Fahrräder sind im Fiatland rar und sowieso lebensgefährlich). Oder die Geduld der lahmgelegten Autofahrer, die in nichts der eines süditalienischen Bauern nachsteht. Dabei spürt man eine gewisse demokratische Toleranz für die Normalität des sozialen Konflikts. Ist das pure Gleichgültigkeit der sozial Abgesicherten, oder ist das nicht ein Nachlaß, sogar der beste, den das Modell Italien der siebziger Jahre zu bieten hatte? Es wäre schön. Leider ist dieses Modell — liebevoll mythologisiert seitens der deutschen italophilen Linken — bei uns längst ausgelaufen. Zugunsten des Lambsdorffschen Modells.

Statt sozialer Konflikte erleben wir in Italien jetzt korporatistische Verteilungskämpfe. Statt der zivilen Gesellschaft artikuliert sich da die bürgerliche: der Markt als Horizont der Politik. In dieser Hinsicht kann man Ähnlichkeiten mit der deutschen Entwicklung erkennen. Verbissene gewerkschaftliche Konflikte finden in Deutschland in einem erstaunlichen Vakuum an politischer Opposition statt. Die SPD träumt von großen Koalitionen und hat kaum etwas zu bieten als ein bißchen mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung der Lasten. Geht es wirklich nur um die mickrigen Zahlen hinter dem Komma nach einer Vier oder einer Fünf?

Die italienische Streikmanie gehört zur Vergangenheit. Was die deutschen Urlauber in Erinnerung haben, sind die rückläufigen Gefechte der achtziger Jahre, als — nach Abschaltung der drei Confederazioni (unser dreifacher DGB) — mal die Piloten von Alitalia, mal die Lokführer wild gestreikt haben. Jetzt sind wir Italiener deutscher geworden: Unsere Politiker schwärmen für eine fünfprozentige Sperrklausel, für konstruktives Mißtrauensvotum, für einen Kanzler statt eines Ministerpräsidenten. Unsere Amtsgerichte erkennen inzwischen die Tariffähigkeit nur der etablierten (und normalisierten) Großgewerkschaften an.

Nun klappern in Italien die regelmäßig unpünktlichen Züge, und die Deutschen — diese verspäteten Italiener — warten vergeblich auf den ICE. Wie erklärt sich diese Ungleichzeitigkeit? Nicht mit einer stärkeren Widerstandsfähigkeit einer »linken« Kultur in Deutschland. Sondern vielleicht damit, daß, während Italien eine Menge individuelle Zersplitterung zu bieten hat, die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland solider strukturiert ist. »Interessenvertretung« funktioniert hier massiver, und die Gewerkschaften gehören dazu.

Wir haben in Italien manchen Generalstreik erlebt, wo alle Räder 24 Stunden lang stillstanden, und danach funktionierte wieder alles (so schlecht) wie früher. Aber einen so langatmig und generalstabsmäßig organisierten Streik wie jetzt im deutschen öffentlichen Dienst haben wir nie gesehen. Zuerst haben wir keine flächendeckende Gewerkschaft wie die ÖTV, die alles mögliche unter ihren Hut bringt, von Straßenkehrern bis zum Kindergarten. Zweitens haben wir selten eine ähnliche Koordinierung unter verschiedenen Organisationen erlebt, wie hier unter ÖTV, DAG, Eisenbahnern und Postlern. Drittens gibt es in Italien keine Streikkasse mit ihrer disziplinierenden Wirkung auf Streikende (durch das tägliche Stempeln in den Streiklokalen) und auf die Gewerkschaften, die sparsam und zweckbewußt mit dem Streikeinsatz ihrer Mitglieder umgehen müssen. Nach dem italienischen Modell müssen alle Mitglieder einer Gewerkschaft zusammen zum Streik aufgerufen werden, und für kurze Zeit. In Deutschland kann man chirurgisch jonglieren, mal ein Lokdepot hier, mal die Müllabfuhr da oder dort ein Theater. Bei der taktischen Vielfalt der Variationen läuft alles mit (fast) eiserner Disziplin. Ist das nicht ein deutscher Streik? (Ein paar kulturgeschichtliche Vorurteile braucht man doch, um urteilen zu können.)

Bei mir keimt ein Zweifel. Bei der schleichenden Italianisierung Deutschlands sind vielleicht die Gewerkschaften die letzten Widerspenstigen? Ein Stück preußischer Standhaftigkeit und Organisationstalent lebt immer noch, wo es die italienischen Sonderkorrespondenten am wenigsten vermuten: in der so unpreußischen Person der Monika Wulf-Mathies. Guido Ambrosino

Korrespondent von 'Il manifesto‘ aus Bonn

Siehe auch Berichte auf Seite 22