Im Giftgas-Prozeß fehlen Akten aus Bonn

Richter im Darmstädter Giftgas-Prozeß übt ungewöhnlich schroffe Kritik an Bundesregierung  ■ Aus Darmstadt Thomas Scheuer

Nachdem die Bundesregierung der Justiz in Darmstadt monatelang die Berichte der UNO-Inspektoren über Iraks Giftgasanlagen verweigerte, wird das Landgericht neuerdings mit UNO-Berichten „zugeschüttet“, die mit dem Gegenstand des Verfahrens zum Teil gar nichts zu tun haben. Derart harsche Kritik äußerte der Vorsitzende Richter Alfred Pani am Montag nachmittag im Strafverfahren um die Beteiligung deutscher Firmen am Chemiewaffenprogramm des Irak.

Insgesamt zehn Manager sind angeklagt, unter Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz technische Ausrüstungen und Anlagen in den Irak geliefert zu haben, die zur Herstellung chemischer Kampfstoffe „speziell konstruiert“ gewesen seien. Die Beschuldigten wollen dagegen nur Technologie zur Herstellung von Schädlingsbekämpfungsmitteln exportiert haben. Nun haben UNO-Teams seit Ende des Golfkrieges in insgesamt 32 Inspektionsreisen im Irak nach atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen und Raketen gesucht. Die Berichte der Inspektionsteams aus dem Chemiewaffenzentrum Muthana, etwa 30 Kilometer von der irakischen Stadt Samarra gelegen, bestätigen, daß dort ausschließlich Kampfgase in enormen Mengen synthetisiert wurden. Dort fanden sich auch die von Deutschen gelieferten Ausrüstungen.

Natürlich ist die Justiz brennend an den UNO-Reports interessiert. Bereits im Sommer letzten Jahres richtete sie ein Rechtshilfeersuchen an die Bundesregierung. Als sich weder in Hans-Dietrich Genschers (FDP) Außenministerium noch in Klaus Kinkels (FDP) Justizministerium etwas rührte, reichte Richter Pani beim Bundeskanzleramt eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein. Doch anstatt der begehrten Akten erhielt Pani eine Vorladung nach Bonn, was der selbstbewußte Vertreter der Dritten Gewalt wiederum am Montag gerichtsöffentlich als „Instinktlosigkeit“ qualifizierte. Zwar sickerten auf einem verschlungenen Umweg über das Finanzministerium und das diesem unterstellten Zollkriminalinstitut mittlerweile einige UNO- Papiere zur Staatsanwaltschaft Darmstadt durch. Auch ein spezieller Bericht über Muthana, der bereits seit November letzten Jahres in Bonn lag, traf vor knapp zwei Wochen verspätet in Darmstadt ein. Doch wichtige Reports stehen noch aus.

Statt dessen bekam Richter Pani jede Menge Lektüre etwa über biologische Waffenforschung oder das irakische Atomwaffenprogramm auf den Tisch. Sehr bezeichnend findet er es auch, daß die Bundesregierung ein Anlagenschema von Muthana nach Darmstadt schickte — in arabischer Sprache, also offensichtlich irakischen Ursprungs. Unterstützt die Bundesregierung etwa die irakischen Verschleierungsmanöver?

„Die Ministerien machen ihre Hausaufgaben nicht“, mit diesen Worten schloß sich auch einer der 23 Verteidiger Panis Kritik an Bonn an. Die Anwälte bemängeln, daß die UNO-Berichte, sofern sie denn kommen, jetzt kleckerlesweise in die bereits angelaufene Hauptverhandlung als Beweismittel einfließen. Ansonsten deckten die Verteidiger das Gericht am Montag nachmittag und Dienstag weiter mit Aussetzungs- und Einstellungsanträgen ein. Erst bei dieser Gelegenheit erfuhr das Gericht, daß das Bundesverfassungsgericht im März dieses Jahres eine Verfassungsbeschwerde angenommen hat, in der die Rechtmäßigkeit einer Verschärfung der Außenwirtschaftsverordnung vom August 1984 angezweifelt wird.

Den Angeklagten wird u.a. ein Verstoß gegen ebendiese Verordnung zur Last gelegt. Die Verteidiger der drei Manager der Hamburger Firma W.E.T. beantragten eine Abkoppelung ihres Verfahrens von den Angeklagten der „Süd-Schiene“, da alleine die ständigen Reisekosten — der Prozeß soll rund zwei Jahre dauern — für ihre Mandanten den wirtschaftlichen Ruin bedeuteten.